Kunstkammer im Schloss Bartenstein

Nachtsonne
 
Was soll ich mit diesem ungewöhnlichen Begriff anfangen, ohne zu wissen, was sein Schöpfer damit gemeint oder bezweckt hat. Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als dem Begriff “Nachtsonne” selbst eine Bedeutung zu verleihen. Viele mögliche Interpretationen kommen mir in den Sinn, und ich weiss nicht, welche ich bevorzugen soll.
 
Da gibt es zuerst die natürliche, welche die Sonne in ihrer vordergründigen Bedeutung meint, denn die Sonne scheint in der Dunkelheit und macht die Nacht zum Tag. Wäre es von Anfang an hell gewesen, so hätte es keine Sonne gebraucht. Die Sonne ist also in ihrere ureigenen Funktion eine Nachtsonne, welche die Nacht zum Tag macht. Unbefriedigend an dieser Interpretation ist einzig, dass der Zusatz “Nacht” recht eigentlich überflüssig ist.
 
Interessant, dass gemäss der so oft unlogischen Bibel Gott zu allererst am ersten Tag das Licht von der Finsternis schied. Er nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Doch erst am vierten Tag bemüssigte er sich, die zwei grossen Lichter, die Sonne am Tag und den Mond in der Nacht, zu kreieren. Unlogisch und in sich widersprüchlich! Gemäss seiner Interpretation wäre somit der Mond die Nachtsonne.
 
Vielleicht sollte man der “Nachtsonne” eine echte physikalische Interpretation geben. Man spricht in der Physik ja oft vom “Schwarzlicht” (hat nichts mit dem gleichnamigen Künstler zu tun!) und meint damit das Ultraviolett-Licht, das unsichtbar ist, aber wenn es auf einem fluoreszierenden Körper fällt, sich in sichtbares Licht verwandelt. Physikalisch gesprochen hat dabei das Streulicht, oder eben die Fluoreszenz, eine andere, längere Wellenlänge, die von unserem Auge detektiert werden kann. Nun, die Sonne hat in der Tat ein sehr viel breiteres Spektrum als es unser Auge wahrnehmen kann. Das heisst, dass das meiste Licht, das von der Sonne emittiert wird, “Schwarzlicht” oder “Nachtlicht”ist. Damit ist die Sonne in der Tat überwiegend eine “Nachtsonne”, und nur ein geringer Teil ihrer Strahlung lässt die Nacht zum Tag werden. Für viele mag dies Interpretation zu wissenschaftlich sein; ich selbst finde sie recht befriedigend.
 
Es bleibt eine dritte Interpretation des Begriffes “Nachtsonne” als eine Wortschöpfung, die von ihrem scheinbaren inneren Widerspruch lebt und damit unsere suchende Kreativität beflügelt. Die “Nachtsonne” ist somit ein Begriff, welcher der Mystik zu entstammen scheint. Seine tiefere Bedeutung kann rational nicht erklärt, sondern muss meditativ erfahren werden. Erst in der Meditation in dunkler Nacht öffnet sich das Geheimnis, das sich nicht weiter beschreiben lässt. Alle erklärenden Worte werden überflüssig, vielleicht hindern sie sogar, den tieferen Sinn zu erahnen. Es bleibt nur die Stille und für den Schreibenden das leere Blatt
 
Vielleicht beginnt jedoch hier die Kreativität des bildenden Künstlers, der ein grossflächiges Bild ganz in Schwarz schafft, etwas versetzt von der Mitte eine ganz schwache, fast ebenso schwarze, geheimnisvolle Aufhellung. Und dazu gehört ein Pendant, ein grosses Bild ganz in Weiss mit einem einzigen, kaum wahrnehmbaren Schatten, zwei enigmatische Bilder ohne erklärenden Text!
 
Doch es scheint mir noch wahrscheinlicher, das die “Nachtsonne” Wort gewordene Musik ist, ein beflügelter Elfentanz aus dem Sommernachtstraum, vielleicht. Doch Mendelssohn hat sich auch an die Walpurgisnacht heran gewagt mit ihren derben Hexentänzen, wo in der dunkeln Nacht Freudenfeuer entfacht werden in Erwartung des nahenden Frühlings. - Es kommt mir viel Musik in den Sinn, ganz dunkle mit erhellenden Lichtblitzen. Ich denke an den Sonnenaufgang zu Beginn von Mahler’s Erster, oder an den Beginn der düsteren Elften von Schostakowitsch. Vielleicht widerspiegelt sich die “Nachtsonne” auch in “The Unanswered Question” von Charles Ives mit den monotonen, fast statischen Streicherpassagen in piano-pianissimo, welche eruptiv von grellen Bläser-Einwürfen unterbrochen werden. – Und schlussendlich bleibt die Frage nach der “Nachtsonne” ebenso unbeantwortet, wie diejenige von Charles Ives nach dem letzten Geheimnis.- Doch eigentlich haben wir vieles davon erfühlt, auch wenn wir es nicht in Worte zu fassen vermögen, und würden wir es versuchen, so ist das Geheimnis weg!
 
Prof. Dr. Richard R. Ernst
 

Kunstkammer im Schloss Bartenstein


www.pixelshine.com
www.wunderkammer.ch
www.martinschwarz.ch