Biografie und Texte zu Martin Schwarz

Martin Schwarz:
Schiltwiesenweg 1, 8404 Winterthur
1946 geboren in Winterthur
1963-67 Ausbildung zum Grafiker-Lithograph bei Heinz Keller. Seit 1968 freischaffender Kunstmacher. Viele Gruppen- und Einzel-Ausstellungen vorwiegend in der Schweiz und Deutschland. Wohnt und arbeitet in Winterthur und D-Bartenstein (Baden-Württemberg).

Arbeitsgebiete:
Ideen Kunst in Bildern, Objekten und Fotografien (digitale Bild-Montagen). Veröffentlichungen von Büchern, Kunstdrucken und Postkarten im EigenArt-Verlag, Winterthur. Seit 1994 Konzeption und Realisation von Ausstellungen in der Kunstkammer im Schloss Bartenstein.

Philippe de Bellet:
Rencontre avec Martin Schwarz dans le cadre de l'exposition à l'Hôtel de Ville d'Yverdon
Le fantastique aux lectures multiples (Le Nord Vaudois, Novembre 2004)
Comme annoncé dans le précédent numéro du supplément culturel, l'exposition intitulé Margaretha Dubach, Martin Schwarz et Hommage à Agapé", qui se tient actuellement à la galerie de l'Hôtel de Ville d'Yverdon-les-Bains se veut à la fois festive et un rien provocante, tout en abordant des thèmes bien plus sérieux. L'artitste Martin Schwarz, de Winterthur, à l'instar de la zurichoise Margaretha Dubach, excelle dans le "détournement" d'objets. Il en résulte des icônes inattendues, tour à tour poétiques ou humoristiques, parfois un rien troublantes aussi.
Lithographe et graphiste de métier, Martin Schwarz est né en 1946 à Winterthur, ville jumelée à Yverdon-les-Bains. S'intéressant à plusieurs champs d'activité, un jour l'envie lui est venue de procéder à des assemblages et c'est ainsi qu'il s'est attelé à la réalisation de livres-objets, de montages et collages digitaux, faisant des photos qu'il métamorphose sous la forme de cartes postales notamment, et peignant des paysages fantastiques. "Je passe facilement de l'un à l'autre pour ne pas saturer", précise-t-il. Et qu'il s'affaire à l'une ou l'autre de ces techniques, pour lui, l'essentiel c'est que l'objet qui en résulte soit immédiatement parlant. Une approche qu'il qualifie de "parole par l'image immédiate".
Puissance du symbole
Ces collages et assemblages, qu'il fait depuis une vingtaine d'années, sont désormais travaillés à l'ordinateur, en collaboration avec un ami qui réalise ses idées. Aujourd'hui Martin Schwarz privilégie les montages à partir d'¦uvres d'art connues pour en proposer une vision basée sur le pirncipe de l'association. "Les contrastes mettent en valeur les éléments d'origine et débouchent parfois sur une interpellation par le biais de la comparaison. D'autres l'ont fait avant moi, mais à l'heure du virtuel, je trouve amusant d'animer des ¦uvres statiques; c'est pour moi un jeu philosophique et symbolique", commente-t-il. Le thème du livre, Martin Schwarz en a toujours eu la passion. "Un livre ne nous parle pas seulement avec les caractères qu'il contient, mais aussi avec les idées qui en jaillissent. " (A ne pas confondre avec le sens du texte - ndlr.) "Je m'efforce de faire en sorte, poursuit-il, que mes livres-objets réalisés à partir existants ou, le cas échéant, créés puis intégrés, donnent l'impression de n'avoir jamais existé sous une autre forme. Un travail assez long et minutieux", souligne-t-il.
De son côté, les objets détournés de Margaretha Dubach inspirent autant d'étonnement et d'emerveillement, mais ici la prédominante est apparemment du moins, de nature poétique, même si la dose d'humour est conséquente. Ses objets, qui constitutent des métamorphoses et des clins d'¦il, procèdent également à partir d'une base existante - de la récupération en fait - sur laquelle est greffée de la terre cuite notamment. Mais ses masques, eux, tiennent un langage plus mystérieux, voire intimidant, et renvoient autant à la mort qu'a la vie. Il faut dire que Margaretha Dubach collabore par ailleurs régulièrement avec des créations théâtrales pour lesquelles elles conçoit masques et costumes.
Dualité vie-mort
Les ¦uvres d'Agapé (prêtées par la galeriste genevoise Marianne Brand, dépositaire du fonds artistique d'Agapé), témoignent d'une longue quête, d'une réflexion sur le cheminement douloureux et la facette désolée de la vie de l'artiste. Sa série de personnages "Exode" en terre, en dit long sur ses préoccupations, ses angoisses et interrogations. Mais comme avec toute ¦uvre d'art, l'approche plastique transcende l'insuppartable et l'indicible pour lui donner un visage que l'on peut appréhender et qui devient source de méditation. Chez Agapé la couleur, expression de vie, contrebalance le noir pour atteindre l'équilibre, mais la notion d'éphémère et de passager n'est jamais très loin...

Martin Kraft:
Von Tieren und Menschen, (Der Landbote, 24. November 2004)
"ANIMAUX" im Seedamm-Kulturzentrum in Pfäffikon SZ
Mit 6 Objekten von Martin Schwarz

Bilder aus rund fünfhundert Jahren vereinigt die Ausstellung "ANIMAUX" in Pfäffikon SZ; doch es geht nie um das Tier allein. Immer wieder kommt seine wechselhafte Beziehung zum Menschen mit ins Spiel.
Die Videoarbeit "A.ni.maux" von Marie José Burki, von der sich der Titel der Ausstellung ableiten lässt, ist wie ein Schlüssel zu ihr. Wir sehen uns mit den unterschiedlichsten Tieren konfrontiert, die uns anschauen - anzuschauen scheinen. Aber wohin blicken sie überhaupt, und vor allem: was empfinden sie beim Anblick ihres Gegenübers? Vielleicht ist damit eine jahrtausendelange Beziehung auf den Punkt gebracht: Der Mensch beherrscht und benützt das Tier, und doch bleibt es ihm, auch als scheinbar vertrautes Haustier, wesensfremd.
Die Arbeit folgt als effektvoller Kontrast unmittelbar auf den chronologischen Beginn des Rundgangs um 1500, mit Dürer, Rembrandt und ihren Zeitgenossen. Hier erscheint die Position des Tieres vergleichsweise unproblematisch, gerade in den vielen Darstellungen zur Bibel ist ihm eine klare Funktion zugewiesen: Es ist im Stall und auf dem Feld, mit dabei bei der Geburt Christi, es ist notwendiger Begleiter auf der Flucht nach Ägypten, es trägt Christus beim Einzug in Jerusalem: Der prächtige Palmesel von Mellingen aus dem Landesmuseum, der allerdings eher einem Maultier gleich, beherrscht den ersten Raum. Mit ihm und seinesgleichen wird der Esel, neben einigen weiteren häufig wiederkehrenden Tieren, zu einem Leitmotiv der Ausstellung. Es schlägt den weiten Bogen zur berühmten Skulptur von Maurizio Cattelan aus dem Migros-Museum: Der mit einem Fernsehgeräte beladene Esel ist ein Spiegelbild unserer absurden Zeit.
Ein unauslotbares Thema
Aus zwingenden Gründen beschränkt sich die Ausstellung in ihrem historischen Teil weitgehend und in ihrem Auftakt ganz auf Druckgrafik. Von all den berühmten Tierbildern aus der Geschichte der Malerei, an die man unvermeidlicherweise denken mag, wären die meisten wohl gar nicht oder dann höchstens zu unzumutbaren Bedingungen ausgeliehen worden. Das ist schon insofern kein Mangel, als das Thema von vornherein den Rahmen jeder Ausstellung sprengt - selbst wenn man ganz auf die aussereuropäischen Kulturen verzichtet, auf die hier wenigstens David Zahners DVD vom Fischteich in einem südindischen Kloster verweist.
Dafür weist nun das Gezeigte - immerhin rund zweihundert Werke von 65 Kunstschaffenden - in höchst anregender Weise über sich hinaus, erinnert auf Schritt und Tritt an andere Tierbilder, die man bereits anderswo gesehen und seither gespeichert hat oder die man zu Hause irgendwo nachschlagen kann. Anderseits ist eine solche Ausstellung wie kaum eine geeignet, selbst ein für die Kunst (noch) nicht speziell begeistertes Publikum über das Interesse am Thema zu ihr zu führen.
Fabelwesen und Genmanipulation
Gerade weil sie und die mit ihr nicht ganz übereinstimmende Begleitpublikation die Materialfülle wenigstens ansatzweise chronologisch und thematisch ordnen, wird deutlich, wie sich im letztlich unauslotbaren Bereich der tiermenschlichen Begegnung die Grenzen stetig verschieben oder überschritten werden. Schon die frühesten Bilder zeigen ja das Tier nicht nur als Arbeitskraft und Jagdbeute, also dem Menschen nützlich, sondern mit der Schlange im Paradies auch als unheimliches und bedrohliches Mischwesen. Es zeichnet sich von hier aus eine eigene Entwicklungslinie der Fabeltiere ab. Martin Schongauers Dämonen, die den heiligen Antonius plagen, gehören dazu, aber auch das sagenhafte Einhorn von Jean Duvet, der symbolträchtige Pegasus von Odilon Redon und Picassos Minotaurus. Sie bekommen neue Aktualität in unserer Zeit des Klonens und der Genmanipulation: in den aus Tierpräparaten, beispielsweise von Pelikan, Känguru und Pferd, zusammengesetzten Monstern von Thomas Grünfeld, welche die populäre Tradition der bayrischen Wolpertinger aufnehmen, in den Zeichnungen phantastischer Mischwesen, etwa eines Sperlingsmenschen, von Juul Krajer und in den zoomorphen Menschbildern von Miriam Cahn. Und auch die Buch- und anderen Objekte von Martin Schwarz sind eigenwillige Zwittergebilde. "Evolutionärer Schritt" zum Beispiel: ein Fischkopf, der nahtlos in einen Fischerstiefel übergeht und damit eine jahrtausendelange Entwicklung in einer Momentaufnahme konzentriert.
Mythologie und Karikaturen
Es gibt bekanntlich nicht nur Schmuse-, sondern auch so genannte Ekeltiere, die wohl seit Menschengedenken bei vielen Leuten Unbehagen auslösen und somit auch ihrerseits eine Art Leitmotive werden. Ein beachtliches Exemplar von Louise Bourgeois' Bronzespinnen kann neben anderen ambivalenten Gefühlen bemerkenswerter Weise auch so etwas wie Schutz und Geborgenheit vermitteln und erweckt auch biografisches Interesse: Die Eltern der Künstlerin restaurierten Textilien, und schliesslich war es ja die sagenhafte Weberin Arachne, die von ihrer Konkurrentin Athene in eine Spinne verwandelt wurde. Mythologische Assoziationen erweckt auch die Performerin Marina Abramovic, die in einer Reihe von Videos mit viel Geduld und sicher auch einiger Courage Schlangen um ihren Kopf, der nun wie ein Medusenhaupt wirkt, sich winden lässt. Stadttauben haben sich in der Hitparade der Unbeliebtheit ja einen Spitzenplatz erobert, und Marianne Müller hält in ihrer Videoinstallation das bedrohliche Treiben der "Flugratten" in Brooklyn von früh bis spät fest.
Auch in der Karikatur treffen wir, als Spiegel des Menschen, viele Tiere. Aus dem Museum Oskar Reinhart kommen "Caprichos" von Goya, mit dem Esel, der, in einem Sessel sitzend, seinen Stammbaum studiert. Martin Disteli hat Hund und Katz in politischen Allegorien vereint, Jean-Ignace Isidore Grandville die Menschengesellschaft als vertiert blossgestellt. Schon mit zoomorphen Comicsfiguren liesse sich schliesslich eine eigene Ausstellung bestreiten; Mickymaus ist wenigstens präsent auf einem monumentalen Skizzenblatt von M.S. Bastian und als Anamorphose von Markus Raetz.

Peter K. Wehrli:
Martin Schwarz in der Galerie Wengihof, Zürich 2003/04
Da hängt das Bild, das unserer Ausstellung in der Galerie Wengihof den Titel gegeben hat. Es zeigt einen Maler. Der Maler malt. Dieser malende Maler malt das Bild eines malenden Malers. Eines Malers, der mit seinem Selbstbildnis beschäftigt ist. Das klingt nach Augentrug und Wortspielerei. Und als verwirrendes Vexierbild kann man das Gemälde durchaus erleben. Hat man sich – um wieder Ordnung in die eigene Wahrnehmung zu bringen – von Bildebene zu Bildeben vorgetastet, und stellt man sich dann auch noch den Maler vor, der in seinem Atelier mit dem Pinsel in der Hand vor diesem Bild steht, so merkt man bald, dass man hier mit wenigen Blicken eine ganze Schule des Sehens absolviert hat: Sensibilisierung des Blicks. Der Maler, der da malt im Bild, dieses Thema hat Martin Schwarz am legendären Vermeer durchexerziert und – in unserem Beispiel – an René Magritte. Das Selbstbildnis. Was aber aus dem Bild im Bild heraustritt ist nicht der "gemalte Maler", sondern vielmehr seine Muse und der weibliche Teil seiner selbst. Die Irritation, die hat der Martin Schwarz ins Bild hineingemalt. Umdeutungen wichtiger Bilder aus der ganzen Kunstgeschichte sind gewissermassen sein Markenzeichen geworden. Er beweist seine Fähigkeit, in vielen Stilen malen zu können. Doch das Demonstrieren von Virtuosität ist nicht sein Hauptanliegen. Und selbst wenn er ein Bild im Stil Picassos, Caspar David Friedrichs malt oder Rouaults dicken Pinselstrich imitiert, niemand wird da "Fälschung!" schreien. Denn immer verwandelt Martin Schwarz den Bildinhalt seiner Vorlagen. Und seine verblüffenden "Stilübungen" müssen diesmal nicht dem Handwerk des Malers nützen, sondern der Wahrnehmungslust des Betrachters. Und die Lust, diese Lust am Enträtseln, steigert sich von Bild zu Bild.
Er denkt das Bild weiter, malt es weiter. So versetzt er etwa ruhig sitzende Modelle plötzlich in Bewegung oder er gibt Männerporträts eine Frau zu Seite, und fügt die abgebildete Frau zum Paar. Das sind nur zwei Arten von Martin Schwarz‚ Eingriffen in bestehende berühmte Gemälde. Weitere zeigen wir hier in dieser Ausstellung: Das Hin und Her vom Abstrahierenden (vom Abstrakten) zum Gegenständlichen – und umgekehrt – das Schwarz an einem "picassesken" oder "picassösen" Frauenkopf durchexerziert. Oder er untersucht, was sich verändert, wenn der dem Mädchen die Katze (die es bei Picasso im Schoss hat) in die Arme gibt. Nie ist da einfach etwas abgebildet, immer passiert etwas mit dem Abgebildeten. Auf diese Weise sind Schwarz‚s Bilder im Grunde immer "Kunst über Kunst". Auch wenn er in ein berühmtes Stilleben wie jenes von Binoit unpassende Gegenstände einfügt, Dinge aus seiner Rumpelkammer auf dem Tisch liegen lässt. Seine "Stilübungen" trägt er auch an jenem Bild aus, das viele als Picassos bedeutungsvollstes bezeichnen: "Guernica". Wenn Picasso darin das Entsetzen des Krieges, den Kampf im Gange, Krieg in Aktion als Mahnmal darstellt, so stellt sich Martin Schwarz die Folgen davon vor: die Zerstörung nach dem Kampf, die Leere einer Stadt, aus der das menschliche Leben "herausgebombt" worden ist. Martin Schwarz denkt Bilder weiter, bestehende Bilder, er arbeitet spielerisch an und mit berühmten Gemälden, er deutet sie um, zitiert sie, paraphrasiert sie wie ein Musiker sein Motiv, - wie der Komponist, der Variationen auf das Werk eines anderen Musikers komponiert. Geradezu halsbrecherisch ist sein Mut zwei der ganz Grossen in einem Bild aufeinandertreffen zu lassen: "Caspar David Friedrich meets Picasso" sagt er dazu. Eine entkörperlichte Picasso-Figur in der mythischen Eis-Szenerie von Caspar David Friedrichs "Letzter Hoffnung". Die Angleichung von Gegensätzen, das Unterschiedliche in Gemeinsamkeiten: geistreich und provozierend setzt Martin Schwarz dieses Wechselspiel in Gang. Zur Schulung unserer Wahrnehmung kommt aber auch noch ein geradezu übermütig durchgeführtes Schulfach: Schwarz hilft uns, im Spiel und mit Vergnügen die aus den Fugen geratene Kunstgeschichte selber wieder zurechtzurücken. So vermischt sich für uns Betrachter die künstlerische Erfahrung stets mit neuen Erkenntnissen von Zusammenhängen in der Kunstentwicklung. Auf so vielen Ebenen kann Martin Schwarz‚ listenreiche Malerei wirken, dass ein Kritiker einmal gestehen musste: "Wenn ich ein Bild von Schwarz beobachte, merke ich plötzlich, dass ich mich beim Beobachten beobachte". Und so geschieht es wohl allen von uns.
Dem vergnüglichen Verwirrspiel hat Martin Schwarz eben jetzt eine zusätzliche Spielvariante beigefügt: Er malt "Bilder im Konditional", Bilder in der Möglichkeitsform: Was hätte Hodler gemalt wenn er in Afrika gewesen wäre – und wie hätte er es gemalt? Was wäre gewesen, wenn...? Hätte Cézanne den Bürgenstock bestiegen.... was, wenn van Gogh Ferien in Zermatt verbracht hätte. Er hat dem Matterhorn, diesem Klisché helvetischer Touristenindustrie, eine neue Frische gegeben und unseren Augen neue Nahrung.
Martin Schwarz lebt in Winterthur. Da liegt es nahe, dass er sich vorstellt die bedeutendsten Künstler der vergangenen Jahrhunderte seien nach Winterthur gereist, hätten dort ihre Staffelei im Freien aufgestellt und idyllische Ansichten der Eulachstadt gemalt. Und wäre Van Gogh je in Winterthur gewesen, er hätte den Kirchenhügel von Oberwinterthur so gemalt, wie es Martin Schwarz getan hat, als eruptive Vision. Den französischen Impressionisten Claude Monet führt Schwarz an einem sonnigen Sonntagmorgen vor das Kunstmuseum Winterthur, - das heisst: er malt die Museumsfassade so wie Claude Monet sie gemalt hätte.... wenn er.... Dass zwei Personen das selbe Stadtquartier ganz unterschiedlich sehen, legt er dar wenn er uns Oberwinterthur durch die Augen Cézannes erleben lässt und gleich anschliessend durch Van Goghs imaginäre Brille. Martin Schwarz ist der Meister im Irritieren. Die Brillanz mit der er es tut, reichert jedes Lehrstück mit listigem Augenzwinkern an. Mit mehr visueller Spiellust als dort, sind die Geheimnisse der Kunstentwicklung kaum irgendwo zu entschlüsseln.
Natürlich lassen sich die grossen Kunstwerke des Abendlandes nur in Reproduktionen bearbeiten, umdeuten, übermalen. Das Sakrileg, sich am Original zu vergreifen, hätte schlimme Folgen. Aber dann hat er doch einen Weg gefunden, ungestraft mit seinem Pinsel in bestehende Bilder eingreifen zu können. Im Brockenhaus und bei Trödlern hat er jene süsslichen Bilder entdeckt, wie sie die sogenannten "Sonntagsmaler" herstellen. Sie malen wegen ihrer täglichen Berufsbelastung tatsächlich nur am Sonntag und halten ihre Welt in gewissermassen "sonntäglicher" Stimmung fest. Da blühen die Blumen wie auf den Packungen aus dem Samenladen, da prangt die Lieblichkeit der Landschaft als hätte sich die Natur längst vom Waldsterben erholt. In diese naive Idylle hat Martin Schwarz nun den Schrecken hineingemalt, das Unvorhergesehene. Und Schwarz dokumentiert dieses Unvorhergesehene, dieses Beruhigende in seinem Buch "Sonntagsmalerei mit Fallgruben". Dieses Buch setzt unsere Ausstellung fort, ergänzt sie, weitet sie aus ins andere Medium, so wie "Verwandlungen von Bildern und Büchern" unsere Ausstellung gewissermassen als ihr Katalog begleitet: ein Buch bleibt da nicht einfach ein Buch und ein Bild erst recht nicht nur ein Bild: Viele Dinge entpuppen sich beim zweiten Blick als etwas ganz anderes, als das, was sie beim ersten schienen. Man geht in die Falle von Martin Schwarz‚‚ Irritation. Man freut sich sogar darüber, weil man weiss, dass man um wesentliche visuelle Erfahrungen bereichert aus ihr herausfindet. (Beispiele, die er im Bild im Buch austrägt: Der Ausflugsdampfer "Blüemlisalp" ist gestrandet, die Wolken über niedlicher Landschaft formen sich unversehens zum Atompliz. Die Sonntagsmaler malen die Welt ja ohnehin nicht wie sie ist, sondern so wie sie zu sein scheint, und Martin Schwarz trägt mit seinem Eingriff nach, wie sie sein könnte – nicht nur in den Bildern des Sonntagsmalers sondern in jenen aller seiner Berufskollegen – Und wie sie werden kann, wenn der Zerstörung nicht Einhalt geboten wird. So verwandelt Schwarz die sonntägliche Idylle zum Mahnmal). Dass Buch und die Arbeit am Buch läuft wie ein roter Faden durch Martin Schwarzs Werk. Und ebenso die Postkarte: Die "andere" Postkarte, eigentlich ein Massenmedium, trägt die Botschaften vertausendfacht in viele Länder der Welt. Und Martin Schwarz nutzt dieses Medium um unsern Blick zu schärfen. Wo üblicherweise die gängigsten Sehenswürdigkeiten, das sattsam Bekannte nochmals und nochmals gezeigt wird, nutzt Schwarz die Post als Instrument der Sensibilisierung. So zeigt Schwarz zwar stets, wie schön die Dinge sind, und macht gleichzeitig den Grad ihrer Gefährdung bewusst. Zweckfrei bleiben seine Irritationen beileibe nie. Und interessant ist zudem, dass diese Ansichtskarten nicht etwa ins Postkartenformat verkleinerte Reproduktionen sind von Bildern, wie sie viele Künstler immer wieder geschehen lassen. Es sind vielmehr Bilder, die Schwarz im kleinen Format konzipiert hat, Collagen aus verschiedenen Karten, die mit der Kommunikationskraft des Mediums Postkarte rechnen: Martin Schwarz behandelt die Postkarte als eigene künstlerische Gattung.
Das Buch, dieser Gegenstand, dem man nicht ansieht, dass er die ganze Welt in sich trägt, hat Martin Schwarz immer beschäftigt. Nicht nur in seinen verwirrenden "Buchobjekten", Bücher als Skulptur auch. Er zeigt uns Bücherlandschaften, Bücherarchitektur. Und weil Bücher gelesen werden wollen wird Schwarz das Lesen Bildthema: Dass Salomon keine Liebesgeschichte liest, das zeigt die kubistische Welt, in der er liest. Und dass Liselotte in ein Märchenbuch vertieft ist, bleibt erkennbar in der surrealistischen Umgebung um sie. Bilder, die Martin Schwarzs Annäherung an das Buch erläutern. Für unsere Ausstellung ist er noch einige kühne Schritte weiter gegangen: Das Buch als Gegenstand in den Händen der Lesenden, sein Inhalt als Szenerie des Lesens. Das Buch wird sein Inhalt. Der Inhalt des Buches wird Welt. Geistreicher ist uns das Wesen des Lesen s kaum je vor Augen geführt worden.
"Der Leser erlebt ja, wenn er liest, nicht das Lesen, er erlebt das, was er liest". Ein solcher Satz verlockt Martin Schwarz zur Fortsetzung seiner Irritationstechnik: Die Leserin wird zur Welle von der sie liest, zum Meer. Damit kann es Schwarz nicht bewenden lassen. Die Leserin ist die Leserin in einem Bild von Renoir. Folglich geht die Verwandlung von der Leserin zur Welle (von der sie liest) im Stile Renoirs vor sich. Da ist nicht nur "die Welt im Buch" (ein Werbesatz), Schwarz hat eine Formel gefunden um belegen zu können, dass ein Buch tatsächlich "ein Stück Welt ist". Die Mutter liest ihren Kindern vor: Wer liest, liest sich ein in die Welt, in seinen Traum oder in seine Traumrolle. Auch dafür zeigt Ihnen diese Ausstellung überraschende Beispiele. Den ganzen 2. Stock dieser Ausstellung hat Martin Schwarz dem Thema "Lesen" gewidmet. Und all den Grenzen, welche die Lektüre aufzuheben vermag.
Dieser Hang zur Verunsicherung unserer Wahrnehmung und der Ansporn, ihre Funktionstauglichkeit immer wieder neu zu überprüfen, hat Martin Schwarz‚ künstlerische Entwicklung von Anfang an begleitet: Irritieren, Imitieren, Variieren als Heilmittel gegen die Schmerzen der visuellen Reizüberflutung. Dazu ist es wichtig zu wissen, wie die Irritationsmechanismen in Gang gekommen sind: Die Künstlerlaufbahn hatte ja mit einer regelrechten "Flucht in die Zeichnung" begonnen. Weil er schlechte Noten in den Problemfächern mit guten Leistungen auf anderem Gebiet ausgleichen wollte, stürzte sich der 1946 in Winterthur geborene Martin Schwarz schon in der Primarschule mit Energie und Begeisterung ins Zeichnen. Das Lob des Lehrers bestärkte ihn, er zeichnete als Mittel der Selbstbehauptung. Besessen kopierte er alte Meister, als könne er sich so ihre Technik einverleiben. Er zeigte mir im Atelier eine erste Bleistiftkopie der Mona Lisa. Datiert 1961. Zeichnen half dem Schüler auch das häufige Alleinsein zu überwinden, das entstand weil beide Eltern berufstätig waren. Zeichnen als Mittel zur jugendlichen Selbstfindung also auch. Selbstfindung in der Auseinandersetzung mit den andern Malern.
Dann der Schritt in die Irritation, ausgelöst vom Bedürfnis, mehr als nur "schöne" und "gute" Bilder zu malen. Damit aus einem Bild ein Kunstwerk werde, braucht es mehr. "Das Bild muss Gedankenfutter liefern!", sagte sich der junge Martin Schwarz. Und so begann er, seinen Betrachtern Rätsel aufzugeben. Einige von ihnen gib es hier im 3. Stock zu lösen. Er variiert bestehende Formen, paraphrasiert überlieferte Themen, verfremdete Allzubekanntes, auf dass es neu und überraschend werde. (Wie gesagt: Die Kunst wurde das Thema der Kunst, die er machte. Kunst über Kunst). Er prüft die Wahrnehmungsfähigkeit unserer Augen und des Gehirn. Das hat er jahrzehntelang getan, und er tut es noch mit immer neuen überraschenden Einfällen. Von ihrer Tragweite will unsere Ausstellung hier in der Galerie Wengihof zeugen.

Ulrich Knellwolf:
Ansprache an der Vernissage zur Ausstellung 'Im Diesseits der Lebewesen' von Martin Schwarz, am 12. April 2003 in der Galerie des Museum HR Giger, im Château Saint Germain in Gruyères
Meine Damen und Herren,
Man lässt an einer Vernissage nicht ungestraft einen Theologen reden. Schon gar nicht an der Vernissage einer Ausstellung mit dem Titel 'Im Diesseits der Lebewesen'. Sowas ist für unsereinen ein gefundenes Fressen. Dabei muss es sich der Maler gefallen lassen, dass er vom Theologen eventuell anders interpretiert wird, als er sich selber versteht. Solches sich gefallen Lassen braucht Demut. Es ist die Demut des Schöpfers. Seit Gott seine Welt hergestellt hat, kommt jeder Dreikäsehoch, der noch nicht trocken hinter den Ohren ist, und weiss, wie man es besser hätte machen können, sollen, müssen. Eventuell anders interpretieren will jedoch hier nicht heissen: besser. Aber eben anders - ohne Anspruch auf Unfehlbarkeit.
Martin Schwarz ist selber Schuld, wenn es ihm so geht. Er provoziert Interpretation. Denn seine Malerei ist stark literarisch. Nicht zufällig spielt das Buch unter seinen Objekten eine Hauptrolle. Auch wenn einem die Peinture Eindruck macht, geht es bei ihm nicht in erster Linie um die Peinture. Es geht um ein Sehen, das in Worte gefasst werden soll, weil es bedacht werden will.
Meistens scheitert das. So einfach lässt sich das von und in den Bildern Gesehene nicht in Worte fassen. Sonst würde Martin Schwarz wahrscheinlich schreiben statt malen. Er schreibt aber malend und, typischerweise, collagierend. Weil es zu komplex ist, das Gesehene in Worte zu fassen, obwohl er malend dazu auffordert, es zu versuchen. Und schliesslich soll mindestens das Scheitern des in Worte Fassens angesichts der Bilder in Worte gefasst und dadurch die Malerei gerechtfertigt werden.
Was malt und collagiert Martin Schwarz? Zum Beispiel Flugzeuge, die halbwegs Vögel sind.
Flugzeuge sind keine Vögel. Aber sie werden Vögel genannt, weil sie, ähnlich wie Vögel, fliegen, wenn auch ganz anders.
Ähnlichkeit und Unähnlichkeit fügt Martin Schwarz zusammen - und es entsteht ein Vogelflugzeug oder ein Flugzeugvogel.
Zusammenfügung dessen, was ähnlich und zugleich unähnlich ist, nennt man, wo es in Gedanken, also unsichtbar jedoch denkbar geschieht, eine Metapher.
Für die Metapher reden die Dinge nicht nur von sich, sondern auch noch von etwas anderem. Das Flugzeug vom Vogel, der Vogel vom Flugzeug. Diese Rückkopplung ist ein Charakterzug der Metapher. Sie ist nie eine Einbahnstrasse. Die Einbahnstrasse wäre die Allegorie.
Die Rückkopplung der Metapher macht Martin Schwarz sichtbar. Damit ist sein Bild keine Metapher mehr, sondern ein Bild von der Theorie der Metapher. Es ist gemalte Metaphorologie. Dazu eignet sich das Bild, jedenfalls im Fall der Metapher, mit seinem Neben- und Ineinander besser als das Wort mit seinem Nacheinander.
Martin Schwarz stellt aus in der Galerie des Museums HR Giger und zeigt dabei auch Gemeinschaftswerke mit HR Giger. Typisch, dass er im Rahmen eines andern auftritt. Er malt ja auch in Bildern anderer Maler. Martin Schwarz ist malerisch auf den ersten Blick das, was man in der Sprache der Kriminalisten einen Trittbrettfahrer nennt. Er zecht, mit einem Lieblingsausdruck Ernst Blochs gesagt, auf fremde Kreide.
Vom gewöhnlichen Trittbrettfahrer unterscheidet ihn freilich, dass er seine Trittbrettfahrerei deklariert. Bei Licht besehen zechen wir ja alle auf fremde Kreide, tun aber so, als täten wir's nicht. Martin Schwarz hingegen gibt es nicht nur zu, er kehrt es so deutlich als möglich heraus - und lehrt uns damit, dass niemand von uns mit dem Anfang anfängt, wir vielmehr immer Erben sind.
Martin Schwarz re-agiert also. Damit stellt er sich gegen die Torheit des Originalgenies. Keiner erfindet die Kunst oder sonst etwas neu und aus dem Nichts. Wir stehen alleweil auf den Schultern derer, die vor uns waren.
Jedoch ist zu fragen, ob die friedliche Metapher vom Stehen auf den Schultern der Vorangegangenen die Wahrheit trifft. Ist Geschichte eine harmonische Entwicklung? Und ist Bildung dankbare Aufnahme und schöpferische Weiterentwicklung von Traditionen? Ich glaub's nicht. Und Martin Schwarz ist mir ein Zeuge für meinen Unglauben in dieser Hinsicht.
Nehmen wir sein Bild nach van Goghs Selbstbildnis. Ich zweifle nicht daran, dass er es am liebsten über das Original von van Goghs Selbstbildnis gemalt hätte. Damit hätte er van Goghs Bild zerstört und im Zerstören zugleich aufbewahrt. Am besten sagen wir: er hätte es malend verdaut.
Van Gogh ist, was sein Selbstbildnis betrifft, Zeuger und Gebärerin, Vater und Mutter zugleich. Die Übermalung ist Verwendung, Verbrauch, Ermordung, Verzehrung und Verdauung der Väter und Mütter. Kannibalismus, Menschenfresserei liegt jeglicher Geschichte zugrunde. Die Harmonie des humanistischen Bildungsideals ist eine weltfremd schönfärberische Lüge.
Martin Schwarz malt die Widerlegung dieser Lüge meistens fast lieblich, haarscharf der Betulichkeit entlang - unaggressiv und unblutig.. Also ironisch. Er spielt in gespielt harmloser Weise das Lied vom Auffressen der Eltern durch die Kinder. Und natürlich gehört dazu, dass die Kinder eines Tages selbst Eltern sind und Kinder haben. Geschichte heisst: Das Diesseits der Lebewesen ist geprägt von Menschenfresserei.
Wir glauben es kaum, weil wir ihn mit fürchterlichen Scheuklappen lesen, aber davon hat in der Literatur weit und breit keiner so unheimlich geschrieben wie Jeremias Gotthelf, den wir mit unserem beschränkten Horizont zum Lebkuchenbäcker machen. Er ertrug das schreckliche Geschichtsgesetz der Menschenfresserei nur im Hinblick auf das Abendmahl, das uns als Kannibalen definiert und uns den Schöpfer selbst zu essen und zu trinken gibt, wodurch dieser das Gesetz des Fressens und Gefressenwerdens in Erfüllung des Gesetzes der Liebe bricht.
Der Titel der Ausstellung ruft nach ergänzender Entgegensetzung. Denn wer 'Diesseits' sagt, provoziert mit dem Wort selbst den Gedanken ans Jenseits. Nur angesichts des Jenseits ist das Diesseits diesseitig. Wir aber sind neugierig und wollen hinter jede Wand schauen.
Wie könnte die Entgegensetzung von 'Im Diesseits der Lebenswesen' lauten? Am entgegengesetztesten so: "Im Jenseits des Todesunwesens".
Nun ist aber erst recht vorauszusetzen,, dass Martin Schwarz Ironie im Sinn hat, wenn er einen Titel so überzogen feierlich daherkommen lässt. Dass er, wie malerisch so auch sprachlich übermalt. Und das hiesse dann, dass im Diesseits der Lebewesen keineswegs nur das Leben lebendig und das Jenseits des Todesunwesens nicht nur jenseitig ist. Dass der Maler vielmehr den Finger auf die Anwesenheit des Todesunwesens im Diesseits der Lebewesen hält. Schon die Entstehung vieler seiner Bilder als Verdauung von Bildern anderer zeigt ja, dass es sich um ein stark von dem Todesunwesen geprägtes diesseitiges Lebewesen handelt. Vorhin nannte ich es Menschenfresserei.
Und das Jenseits, es wäre dann das Jenseits des im Diesseits die Lebewesen verschlingenden Todesunwesens, also ein diesseitig werdendes Lebewesen, in dem das Leben nicht mehr vom Todesunwesen geprägt wäre. Ich bin versucht, von einer christologischen Dimension dieser Bilder zu reden.
Grund zur Hoffnung auf das diesseitig werdende Lebewesen geben jedenfalls wiederum die Bilder selbst. Dann nämlich, wenn sie gelingen. Also wenn im van Gogh-Bild die Kommunikation zwischen van Gogh und Martin Schwarz nicht in Mord und Totschlag endet, sondern so, dass Vincent van Gogh von Martin Schwarz und Martin Schwarz von Vincent van Gogh so verstanden ist, dass van Gogh sich willig hergibt und Martin Schwarz dankbar nimmt um wieder herzugeben, an uns Beschauer. Das kann nie ganz klappen, solang das Lebewesen noch nicht ganz diesseitig ist. Aber Anzeichen dafür, dass es werden will, sind die Bilder von Martin Schwarz.

Peter Killer:
Name: Martin Schwarz – Beruf: Veränderer
Es ist, wie es ist. Zur Tagesordnung kann man übergehen. Genau wie früher. Was gang und gäbe ist. Sich Gewohnheiten überlassen. Altbewährtes hochhalten. Nur dem vertrauen, was die eigenen Augen sehen. Sicher bleibt sicher. Was gut war, wird gut bleiben. Ein für alle Mal. – Nicht so bei Martin Schwarz.
Eigentlich müsste Martin Schwarz als Berufsbezeichnung «Veränderer» angeben. Für ihn ist nichts wie es ist, er geht nie einfach so zur Tagesordnung über, lässt nichts beim Alten, misstraut dem, was gang und gäbe ist, glaubt ans Unsichere mehr als ans Sichere. Hält sich an Heraklit: Alles fliesst.
Wer dem Winterthurer Künstler begegnet, nur sein Äusseres wahrnimmt, würde in ihm nicht die verspielte Persönlichkeit vermuten, die fast allem, was sie sieht, neue Bedeutungen und Formen geben kann, die griesgrämige Objekte in ein übermütiges Travestiespiel zu verwickeln vermag. Er erinnert an die grossen Clowns, oder an Buster Keaton, bei denen Ernst und Unernst in einer Seele verschmolzen waren.
Als ich ihn aufs Jahr genau vor dreissig Jahren kennen lernte, arbeitete er, Nomen est omen, fast ausschliesslich mit der Farbe Schwarz. Schwarz gilt – zumindest in der westlichen Kultur – als traurige, ernste Farbe, als Unfarbe. Der homo ludens hat mit Textbildern die triste Farbe zum Lächeln und Lachen gebracht, den undynamischsten Farbwert zum Leben erweckt.
Man kann Martin Schwarz in die Tradition der Dadaisten und ihrer surrealistischen Nachfolger einordnen, oder den Fluxus-Künstlern zugesellen. Man könnte, wenn da nicht ein sehr ausgeprägtes Charaktermerkmal wäre. Seine Kunst will uns immer verunsichern, aber sie verletzt keine Tabus. Er will weder neodadaistischer Bürgerschreck sein, noch wie die Surrealisten moralische Regeln attackieren, er zerhackt auf der Bühne keine teuren Pianos, wie das die Fluxus-Leute taten. Die eigene individuelle Freiheit ist ihm zu kostbar, als dass er die individuelle Freiheit der andern angreifen würde.
Das Wort «Moralist» bringt man mit Begriffen wie «Moralprediger», «Philister», «Besserwisser» in Verbindung. Sinngemäss bezeichnet es aber eine Person, die sich für die Aufrechterhaltung von Normen und Werten einsetzt. Sinngemäss ist Martin Schwarz sehr wohl ein Moralist. – Hans-Jürgen Seemann hat 1992 ein hochinteressantes Buch mit dem Titel «Copy - Auf dem Weg in die Reprokultur» veröffentlicht. Im Gegensatz zu Walter Benjamin («Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit», 1936) glaubt Seemann, das die Vervielfältigung die Aura eines Kunstwerkes nicht zerstört, sondern erst entstehen lässt. Oder vereinfacht gesagt, die Mona Lisa ist nicht «einzigartig» weil sie einzigartig ist, sondern weil sie milliardenfach reproduziert worden ist. Wer im Louvre die Mona Lisa finden will, muss sich am Eingang nur dem Besucherhauptstrom anschliessen und gelangt unweigerlich ans Ziel. Die Motivation zum langen Marsch durch die Museumssäle ist für die Mehrzahl einzig die Bekanntheit der Gioconda; man will den «Star» live gesehen haben. Was man schon von Abbildungen zur Genüge kennt, langweilt nicht, sondern zieht an. Kulturmanager und ihre Kassenwarte mögen dieses Phänomen. Leidtragende sind dabei nur die Kunstwerke selber. Sie werden bestaunt, begafft, aber nicht mehr im Sinn einer aktiven Auseinandersetzung betrachtet.
Der Moralist Martin Schwarz liebt Kunstwerke. Fremde vielleicht noch mehr als seine eigenen (deshalb – wie seine Kunstkammer im Schloss Bartenstein zeigt – ist er auch ein leidenschaftlicher Sammler). Er erweckt zu Tode reproduzierte Kunstwerke zu neuem Leben, weist uns durch sein Verfremdungen auf ihr Lebenspotential hin. Er versucht nichts weniger als im Kunstwerk den Kunstwert zu retten, wohlwissend, dass horrende Versicherungssummen oft im grössten Widerspruch zum verbanalisierten geistigen Wert stehen.
Martin Schwarz sieht sich Bilder genau an. Besser als die meisten Kunstfreunde. Aus der intensiven Auseinandersetzung entstehen seine Interpretationen, die uns ohne schulmeisterliche Allüre lehren, besser zu sehen, Zusammenhänge zu erkennen. Was unsere Augen eingelullt haben, dem gibt er die Radikalität zurück.
In Bertolt Brechts «Geschichten vom Herrn Keuner» gibt es die wunderschöne Notiz:
Wenn Herr K. einen Menschen liebte
«Was tun Sie» wurde Herr K. gefragt, «wenn Sie einen Menschen lieben?» «Ich mache einen Entwurf von ihm», sagte Herr K., «und sorge, dass er ihm ähnlich wird.» «Wer? Der Entwurf?» «Nein», sagte Herr K., «der Mensch». – Brecht wollte Menschen verändern, die er liebte. Martin Schwarz verändert Bilder, die er liebt.
Den echten Moralisten geht es um echte Werte. Die Verwirrspiele des Martin Schwarz führen zum Echten zurück. Eine unumstössliche Wahrheit ist der Tod. So kommt es nicht von ungefähr, wenn Martin Schwarz eine ganze Reihe von Bildern zum Thema des Grabes, des Künstlergrabes gemalt hat. Mit dem nötigen Ernst. Hier verbietet sich der Künstler seine skurrilen Einfälle, da lässt er Witz und Ironie beiseite.
Die Ausstellung des Kunstvereins Olten zeigt nicht nur die Gemäldemetamorphosen, die Martin Schwarz berühmt gemacht haben, sie versammelt auch ein Reihe seiner phantastischen Bücher. Alljährlich wird ein Vielfaches mehr Bücher produziert als gelesen. Die Konsumgesellschaft hat Bücher zu Wegwerferzeugnissen degradiert. Die Zeiten, in denen Neureichs Buchattrappen kauften, um sich den Anschein der Belesenheit zu geben, sind längst vorbei. Design your life: In heutigen Lifestyle-Wohnungen sieht man keine Büchergestelle mehr. Offensichtlich haben Bücher wie Bilder an Aura verloren. Martin Schwarz gibt den Büchern ihr Wunderbares wieder zurück, eröffnet uns Wunderwelten, wie sie Kinder und leidenschaftliche Leser auch zwischen ganz gewöhnlichen Buchdeckeln entdecken.
Die Oltner Kunstfreunde kennen das Schaffen von Martin Schwarz u.a. durch seine digitalen Postkartenmontagen (Kunstmuseum Olten, 2001; Oltner Neujahrsblätter 2002). Der Künstler hat sich immer wieder mit trivialen Bilddokumenten beschäftigt (zum Beispiel auch mit anonymen, im Brockhaus gefundenen Sonntagsmalereien). Auf witzige Art greift er ins Sonntagsgesicht der Postkartenwelt ein und gibt uns damit die Möglichkeit, Vertrautes neu zu sehen. «Kunst ist dazu da, den Staub des Alltags von der Seele zu waschen. Sie soll Begeisterung wecken, denn Begeisterung ist das, was wir am meisten benötigen - wir und die jüngeren Generationen», sagte Picasso. Recht gibt ihm Martin Schwarz.

Gabriele Bono:
Olten – Der Kunstverein zeigt im Stadthaus den schöpferischen Ideenreichtum des Künstlers Martin Schwarz
Martin Schwarz ist ein experimentierfreudiger Hinterfrager, ein einfallsreicher Bedeutungssucher, ein lust- und fantasievoller Verwandler. Von seinem grossen schöpferischen Ideenreichtum zeugen seine Werke, die er auf Einladung des Kunstvereins Olten in den Ausstellungsräumen im Stadthaus Olten zeigt.
Der gelernte Grafiker Martin Schwarz, 1946 in Winterthur geboren, arbeitet seit 1968 als freischaffender Künstler. In seinen Bildern und seinen Objekten reflektiert er Prozesse und Formen von Verwandlung. Er tut es virtuos mit den Mitteln digitaler Computertechnik in seinen Postkartenmontagen, handwerklich meisterhaft in seinen geheimnisvollen skulpturalen Buchobjekten, mit überzeugendem Können beim Eintauchen in die Bildwelten und Bildsprachen bekannter Meisterwerke der Kunstgeschichte, die er verändert, auf oft überraschend neue Aussage hin weiterdenkt und -malt.
Digitale Visionen einer veränderten Welt
Inspiriert von der Farbigkeit und Form des trivialen Massenproduktes Postkarte zeigt Martin Schwarz im ersten Raum in grossflächigen Montagen seine "Postkartenbilder". In einem variationsreichen Spiel imaginiert er Wirklichkeiten, die Realität und Surrealität vermischen, die die vertrauten Ordnungen von Ort und Zeit ausser Kraft setzen, räumlich Getrenntes vereinen, Grössenverhältnisse negieren. So werden zum Beispiel in der Serie "Schwarze Nichts" gefüllte Sportstadien zu Raumkörpern, die sich ins pechschwarze Nichts katapultieren, der Canale Grande mit seinen Gondolieren hat einen alles überflutenden Auftritt auf grosser Bühne, ein Südseefisch bewegt sich vertraut neben einem ihm ähnlich sehenden Airbus, die kleine Meerjungfrau betrachtet die Niagarafälle, das Matterhorn durchreist die unterschiedlichsten Klima- und Landschaftszonen. Verspiegelte Überblendungen verbinden sich zu Farbflächen von zauberhafter Schönheit. Es ist ein visuelles Vergnügen, den Visionen von Martin Schwarz zu folgen, die staunen machen, amüsieren, irritieren, nachdenklich stimmen.
Faszination des Lesens
Im mittleren Raum umkreisen Buchobjekte und ihnen zugeordnete Bilder die Faszination des Lesens. Lesen eröffnet der Fantasie weite, unbegrenzte Räume. Der Künstler pointiert es in zwei vierteiligen Bildreihen. Er verwandelt eine lesende Frau, gemalt nach Renoir, im Verlauf einer dreistufigen Metamorphose in ein Landschaftsbild, lässt ihren roten Mund als rote Blume am Weg blühen, die dunklen Linien ihrer Lider sich wie Vögel in die Weite des Himmels schwingen. Analog löst er ein lesendes Mädchen nahezu spurlos auf in Meereswogen und Wolkenberge unter einer hohen Himmelskuppel.
In seiner "Bibliothek der verwandelten Bücher" führt Martin Schwarz die wundersamen Transformationsprozesse weiter. Bücher, die auf den ersten Blick wie alte klösterliche Buchbestände anmuten, hat er in steinartig wirkende Skulpturen umgeformt, lässt sie mit wunderlichen Dingen symbiotisch verwachsen, mit Nautilusschnecken und Meerestulpen, denen sie sich in Farben und Ausformungen angleichen, mit kristallinen Gebilden, die eruptiv aus ihnen hervorbrechen, mit Achatscheiben, deren Maserungen sich farblich und formal in den Auffaltungen der Seiten wiederholen, mit zersplittertem Holz, das aus einem geöffneten Buch herauswächst, mit feinen rot-goldenen Spitzen, deren üppige Faltungen die Kostbarkeit alter Kirchenbücher evozieren. Die Fülle kreativer Ideen ist überwältigend, die Fülle an Büchern auch, was die Wirkung des einzelnen etwas beeinträchtigt.
Interventionen an klassischen Meisterwerken
Im letzten Saal wird zum Hauptthema, was schon im hinteren Teil des mittleren Raums zu sehen ist: des Künstlers eigenwillige Fortschreibungen und überraschende Veränderungen von berühmten, häufig reproduzierten Gemälden der Kunstgeschichte, die man wahrnimmt, ohne sie weiter richtig anzuschauen. Martin Schwarz zwingt zum genauen Hin-schauen. Ironisierend stellt er künstlerische Entscheidungen zur Diskussion: "Könnte es nicht auch so gewesen sein?" Er schliesst diskret die Tür, durch die ein holländischer Meister lockende Weiblichkeit zeigt, er zieht eine Portiere weiter zu und entzieht damit einen weiblichen Rückenakt neugierigen Blicken. Seine Eingriffe verweben oft Vordergründiges und Hintergründiges. Sie treffen manchmal rasche Entscheide, legen, wie mit einer Handbewegung Breughels karnevaleskes Menschengewimmel vom Platz, die schöne Maya von ihren seidenen Kissen. Manchmal verändern sie prozessual und lassen durch die in "Leserichtung" gehängten Bilder den Betrachter an den stufenweisen Metamorphosen teilhaben, wie bei der Verwandlung von Picassos abstraktem Mädchenbildnis zurück zur Natürlichkeit.
Martin Schwarz zitiert und imitiert mit handwerklicher Perfektion, verändert van Gogh, Picasso, Magritte, Klee, Kandinsky, Feininger und Caspar David Friedrich zu neuen Aussagen, zu neuen Farb- und Formvarianten. Durch seine Interventionen ermuntert er den Betrachter zum genauen Hinsehen, animiert zum Entdecken von versteckten und offenen Anspielungen oder einfach zum Staunen.


Dr. Siegfried Wagner (Nietzsche-Haus Naumburg):
Das war einmal: In einer Welt ohne Bilder verliehen seltene und kostbare Illustrationen – als Buchmalerei, als Steinmetzarbeit – dunklen, schwerbegreifbaren Gedanken Gestalt, formten aus abstrakten Wesen konkrete Erscheinungen und gaben fremdländischen Namen sichtbare Körper. Vergangenheit. Die Gegenwart aber ertrinkt in Bildern, die sich als Medium der Aufklärung verstehen wollen und doch nur die Phantasie ersticken. Unablässig und grell schreien sie von Litfasssäulen, aus dem Fernseher, aus Illustrierten, aus Katalogen, aus Büchern. Dass die Computertechnik sie in unendlicher Zahl allzeit und überall bereit hält, gilt als Fortschritt. Die Illustration "erhellt" dem Wortsinn nach den sprachlichen Ausdruck, indem sie diesen wie mit einem Blitzlicht beleuchtet und stillstehen lässt, wobei sie sowohl das Vor- und Nachleben des Gedankens als auch seine Schattenseiten wenn nicht ignorieren, so doch zurücktreten lassen muss. Illustration ist daher immer Reduktion. Aber sie ist banal, wenn sie nur Reduktion ist; denn in ihrem Vermögen liegt mehr: Sie kann "erläutern, ergänzen, schmücken oder instruieren", sagt das Lexikon. Sie kann aber auch assoziieren, abschweifen, verfremden, verstören. Das ist die andere Art der Illustration, um die es Martin Schwarz in seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche geht. Er ist kein Analytiker. Er versucht nicht, aus Nietzsche-Texten Piktogramme zu destillieren und diese als Schaubilder zusammenzusetzen. Er versucht nicht, philosophischer zu sein, als Nietzsche, der Literat. Was viele an Nietzsche verzweifeln lässt, ist das Uneindeutige, die Offenheit seiner Texte, die Lücken, die er dem Leser bietet, sie zu füllen. Martin Schwarz aber nimmt diese Einladung an, lässt sich ein auf das Ambivalente, das in sich Kontradiktische. Er hat Nietzsches Texte nach Aussagen zur Dingwelt durchforstet, weil Ihn interessierte, wie dieser, als "Zerstörer" verschrieen, sich einem erschliesst, der nach Schöpfungskraft sucht. Und wie Nietzsche kunstvoll die Perspektiven wechselt, um zu neuen Einsichten zu gelangen, wie er gedankliche Purzelbäume schlägt, um sich widersprechenden Wahrheiten zu ihrem Recht zu verhelfen, so geht auch Martin Schwarz mit seiltänzerischer Leichtigkeit zu Werke, um zu Nietzsches Gedanken "andere" Illustrationen zu finden, die nichts mit "Abbildern" zu tun haben, sonder eigene, kongeniale Kunstwerke sind. Und gerade im formalen Korsett der naivsten und verbrauchtesten aller Abbilder, der bunten Ansichtskarten nämlich, gewinnen seine verblüffenden und verwirrenden Visionen eine erstaunliche Eindringlichkeit: Grüsse aus der Welt hinter den Dingen, "Postkartenmontagen", wie er selber sagt, "als Botschaften aus dem Land der Philosophen und Träumenden..."

Manfred Kiesel:
Martin Schwarz und seine Kunstkammer im Schloss Bartenstein
Zweitausend Jahre Christentum ist für den vielseitigen Ideenkünstler Martin Schwarz ein Ereignis, das zum Nachdenken, zu einer Rück- und Vorschau über den Umgang mit der Religiosität einlädt.
Es sind aber nicht in erster Linie die historischen und auch künstlerisch analysierungswürdigen Hochs und Tiefs im Verlauf des Christentums, die Martin Schwarz an dieser Auseinandersetzung reizen, sondern die ureigene Erfahrung, sich ganz und sehr individuell den eigenen Inspirationen in Sachen Glauben zu öffnen. Er stellte seine Ausstellung unter den Titel
"Gegensätzliche Inspirationen nach anno domini 2000 und nach Friedrich Nietzsche"
Gemälde, Objekte, Collagen und digitale Bildmontagen
Inspiration bedeutet unter anderem Eingebung, Erleuchtung, Begeisterung, Einfall. Der Ausstellungs- und Arbeitstitel "Gegensätzliche Inspirationen" eröffnet damit ein grosses, stellenweise auch extremes Spannungsfeld. Begeisterung, Einfälle für und gleichzeitig gegen etwas. Nietzsche Zitate über "Dinge" werden aufgegriffen und in Form von Collagen, Text-Bild und Text-Objekt Kombinationen bildnerisch umgesetzt. Es geht also auch um seltsame Dinge, die sich nicht genau bestimmen lassen und damit auch Parallelelen zu Glaubensdingen aufweisen können.
"Wir fürchten uns nicht vor der Kehrseite der guten Dinge (wir suchen sie, wir sind tapfer und neugierig genug dazu)" F. Nietzsche.
Der Schaukasten "Tina Ramses" mit sehr unterschiedlichen Objekten gibt dem Betrachter zunächst einige Rätsel auf. Ramses als ägyptischer Gottkönig des Lichts ist zwar bekannt, aber ist der Vorname Tina nicht schon ein Widerspruch in sich? Vielleicht lässt sich diese Namenskombination mit dem Vor- und Nachnamen des Künstlers Martin Schwarz in Verbindung bringen? Wenn ja, in welche? Welche Tendenzen zeichnen sich in den verschiedenen Objekten ab?
Farbwirkungen auf neue Umsetzungs- und Kompositionsmöglichkeiten, auf neue Inszenierungen und Inspirationen hin.
Bei der Arbeit "Geburt Christi" nach Rembrandt lösen sich die oben streng geordneten Farbfelder nach unten langsam auf und geben so fragmentarisch den Blick auf das ursprüngliche Bild frei.
Im Kontrast zu diesen modernen künstlerischen Umsetzungs- und Bearbeitungsmöglichkeiten stösst man bei den Buchobjekten und den reliefplastischen Arbeiten auf traditionelles handwerklich-künstlerisches Können. Für seine hervorragenden Buchobjekte bekannt, vermittelt Martin Schwarz auch in diesem religiösen Bereich besondere Bezüge zum "Ausgangsmaterial" Buch. Materialien, beziehungsweise Objekte werden zusammen mit meist antiquarischen Büchern, Leim, Kleister, Papiermaché, Farbe, speziellen Baustoffen und ausgewählten Objekten und Materialien zu besonderen Buchobjekten kombiniert. Umrahmt von Bibeln aus aller Welt fällt ein ganz in hellem Blau gefasstes Buchobjekt auf. Der gekreuzigte Jesus, symbolisch vom Kreuz befreit aber immer noch in der bekannten Leidenshaltung verharrend, bildet den optischen Anziehungspunkt des aufgeschlagenen Buches. Ein vieldeutiges Arrangement, das durch die vereinheitlichende Farbgebung ästhetische und religiöse Funktionen in sich vereint.
In den Fensternischen hängen fünf Bilder mit einem ganz eigenen Reiz und mit besonderer Ausdrucksqualität. "Relikte religiöser Träume" nennt sie Martin Schwarz. Die Farbe wurde sehr pastos auf die Leinwände aufgetragen, zu Teil wurden fragmentarische biblische Szenen aus Fresken oder anderen Abbildungen übernommen. Die Bildsituation wird aber nicht durch abbildhafte Szenen, sondern durch Farb-Formen und Farbkombinationen bestimmt. Den besonderen Ein- und Ausdruck erhielten die Bilder durch einen Überzug mit Giessharz. Ganz zufällig kann man in den Giesspuren abbildhafte Figuren deuten.
Ich gebe nicht Sichtbares wieder, sondern ich mache Dinge sichtbar, sagte einstmals Paul Klee. Das trifft auch auf die Arbeiten von Martin Schwarz zu. Er ist ein sensibler und wachsamer Mensch, der künstlerisch agiert und reagiert und seine Dinge sichtbar macht. Er ist offen für alle menschlichen Belange, unabhängig, ob es um Religiöse, Philosophisches, Künstlerisches, Soziales, die Natur, die von Menschen geschaffene Umwelt, kleine Episoden oder Weltereignisse geht. Ernstes und humorvolles, spontanes und wohlüberlegtes, experimentelles und handwerklich perfektes Vorgehen zeichnen seine Arbeiten aus.

Lucia Cavegn:
Rede zur Eröffnung der Ausstellung im Kirchgemeindehaus Oberwinterthur
Sehr geehrte Damen und Herren
Viele von Ihnen kennen das Schaffen von Martin Schwarz sehr gut, kennen seine Buchobjekte, seine humorvollen Postkartenserien und seine Variationen nach Gemälden der klassischen Moderne.
All diese Werke haben eines gemeinsam: sie gehen von einer bekannten Tatsache aus; sei dies eine klischehafte Ortsansicht (z.B. Zermatt mit dem Matterhorn), ein bekannter, alltäglicher Gegenstand wie das Buch, oder Werke berühmter Maler.
Eigentlich wissen wir worum es geht: das Matterhorn gehört zu Zermatt, ein Buch besteht aus Papierblättern zwischen zwei Deckeln, und auch einen van Gogh erkennen wir ohne Schwierigkeiten aufgrund des Sujets und des Pinselstriches.
Wir glauben, diese Dinge so gut zu kennen, dass wir sie gar nicht mehr genau betrachten. Wir besitzen in unserm Kopf bereits eine Vorstellung von diesen Dingen, kennen deren wesentliche Merkmale.
Dieses Gewohnheitssehen wird durch die Werke von Martin Schwarz irritiert. Um unsere Sehgewohnheiten zu durchbrechen, bedient sich Martin Schwarz der Assemblage bzw. der Collage. Er fügt Alltägliches, Allgemeinbekanntes (Gegenstände und Bilder) zusammen, wobei das Werk so verarbeitet ist, dass man keine Naht, keine Brüche erkenne kann, der Übergang ist fliessend. Aus dem Zusammenfügen ist ein eigenständiges Objekt oder Bild entstanden, ein Hybrid (Kreuzung, Mischung, Bastard). Aus der Verbindung eines Buches und einer Muschel entstand z.B. das "Muschelbuch". Auf der Postkarte "Ankunft am Hauptbahnhof Zürich" sehen wir eine Karawane vor dem HB Zürich vorbeiziehen. Das Spezielle an diesen Hybriden ist, dass sie täuschend echt aussehen.
Man kann diese Hybriden auch als Phänomene bezeichnen. Gemäss Fremdwörterduden bedeutet dieses Wort Etwas, was als Erscheinungsform auffällt, ungewöhnlich ist; dann aber auch: der sich der Erkenntnis darbietende Bewusstseinsinhalt. Phänomene dienen demnach dem Gewinn an Erkenntnis. Und tatsächlich ist es ja so, dass die Hybride von Martin Schwarz uns stutzig machen. Wir sagen uns: "He, da stimmt etwas nicht", und wir schauen genauer hin. Was wir bisher nur mit unserem Gewohnheitsblick gewürdigt haben, schauen wir genauer an und wir entdecken da und dort einen versteckten Sinn oder wir werden uns unserer Klischees und vorgefassten Betrachtungsweisen bewusst. Martin Schwarz hilft uns, Alltägliches mit neuen Augen zu sehen.
So ist es auch mit den Bildern in dieser Ausstellung "Neue Bilder einer imaginären Kunstgeschichte". Ausgangspunkt zu diesen Arbeiten war die grundlegende Frage, "Was wäre gewesen, wenn... Monet, van Gogh, Picasso und Cézanne in und um Winterthur gewirkt hätten?
Im Prinzip fügt Martin Schwarz auch in diesen Bildern zwei Realitäten (tatsächliche Gegebenheiten) zusammen, die wir – jede für sich genommen – gut kennen. Die eine Realität ist die Malerei berühmter Künstler, die wir anhand ihrer künstlerischen Ausdrucksmittel, dem Pinselstrich und ihrer Farbpalette wiedererkennen. Die andere Realität ist die Gegend von Winterthur, welche den meisten von uns aus der täglichen Erfahrung bekannt ist.
Betrachten wir nun eines dieser "was wäre wenn"-Bilder, so denken wir sofort, dass das Bild z.B. wie ein Monet aussieht, zugleich sind wir irritiert und merken, dass es sich nicht um ein für Monet typisches Sujet handelt, wir schauen genauer hin und erkennen plötzlich die uns vertraute Umgebung von Winterthur wieder. Das Aha-Erlebnis wird also durch den Verfremdungseffekt hervorgerufen; die ungewohnte und "unrealistische" Kombination zweier Gegebenheiten hat unsere Neugierde geweckt und wir beginnen nachzudenken.
Die Bilder sind nicht einfach eine Nachahmung im Stile eines berühmten Künstlers, sondern sie sind eigentliche Sehhilfen, die zu einer neue Sichtweise führen können. Martin Schwarz hat mit diesen Bildern Übersetzungsarbeit geleistet; durch seine Bilder sehen wir die Gegend von Winterthur durch die "Monet-Brille", das heisst, dass wir die Gegend mit neuen Augen betrachten und bewusster hinsehen.
Zudem beginnen wir zu überlegen, was denn die persönliche Handschrift eines Monets oder eines van Goghs ausmacht.
Sicherlich ist es auch Martin Schwarz nicht möglich, die Malweise der Künstler bis ins letzte Detail zu imitieren, das ist nicht sein Anspruch (es geht ja nicht darum, Bilder zu fälschen). Aber die Bilder von Martin schwarz verwenden typische Eigenheiten der jeweiligen Künstlerhandschriften, machen sie augenfällig und öffnen dadurch unsere Augen für den nächsten Museumsbesuch. Denn Hand aufs Herz, ist es nicht so, dass wir die Werke berühmter Maler manchmal gar nicht mehr genau betrachten, weil wir glauben, sie schon zu kennen.
Dank Sehgewohnheit können wir im Alltag Dinge rasch wiedererkennen. Die flüchtige und schematisch Wahrnehmung lässt uns aber vieles übersehen. Wenn aber aus dem Sehen ein ruhiges Betrachten wird, ist sinnliche Wahrnehmung möglich. Und erst die Wahrnehmung führt zum Begreifen und Verstehen. Deshalb sind im Französischen die Wörter "apercevoir" (erblicken, sehen) und "concevoir" (entwerfen, begreifen, verstehen) einander verwandt, beides hat miteinander zu tun. Ich hoffe, dass diese Ausstellung (für Sie) zu einer Entdeckungsreise in diesem Sinne wird.
Giorgio Morandi: die eigene künstlerische Sprache anhand eines beschränkten Gegenstandrepertoirs entwickeln. Konzentration auf weniges. Um das Wesentliche zu entdecken, muss man nicht in die Ferne schweifen.

Martin Kraft:
Schwarz, Martin, *10.8.1946, Winterthur.
Maler-, Konzept- und Objektkünstler sowie Fotograf. Collage und Computermontage. Auch als Verleger und Ausstellungsmacher tätig.
1963-67 lässt sich Martin Schwarz bei Holzschneider Heinz Keller in Winterthur zum Handlithografen und Grafiker ausbilden. Gleichzeitig Besuch der Kunstgewerbeschule Zürich und erst Ölbilder und Zeichnungen. 1967 Arbeit in einem grafischen Atelier. Ab 1968 freischaffender Künstler; erste Einzelausstellung mit abstrakten Bildern in der Keller-Galerie Winterthur. 1969 kinetische Objekte und elektronische Installationen. 1972 Stipendium Kiefer-Hablitzel-Stiftung, 1973 erstes von drei Eidgenössischen Kunststipendien und Wiederaufnahme der Malerei. Den Schaffensschwerpunkt bilden bald Collagen und übermalte Farbdrucke populärer Meisterwerke, die 1978 an der Einzelausstellung im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart gezeigt werden. 1977 Zweitatelier in Köln, das 1982-83 auch als Galerie genutzt wird. Kunstpreis Forum Junger Kunst und Teilnahme an der Documenta 6 in Kassel. Seit 1980 entstehen Postkarten-Collagen. Die bildnerische Auseinandersetzung mit Gottfried Keller bildet 1981 den Schwerpunkt der Ausstellung im Kunsthaus Zürich, Herausgabe des Katalogs im selbstgegründeten EigenArt Verlag. Die grossformatigen übermalten Fotocollagen von 1982 mit apokalyptischer Thematik münden 1984 in Gemeinschaftswerke mit H. R. Giger. 1983 Veränderung von Bildern von Sonntagsmalern, mit literarischen Interpretationen in einem Buch reproduziert und in der Ausstellung im Kunstmuseum Winterthur gezeigt. 1985 Zweitatelier im Schloss Schwarzenbach wo Schwarz auch Ausstellungen organisiert. 1986-87 Schriftbilder zum Thema Nichts und Buchobjekte. 1988 Zweitatelier im Schloss Bartenstein, hier 1994 Eröffnung der Dauerausstellung Kunstkammer. Variationen von Bildern der Klassischen Moderne mit Schwerpunkt auf Vincent van Gogh. Seit 1990 fantastische Objekte und Bilder, ab 1994 auch Computermontagen. 1994 richtet er im Nietzsche-Haus in Sils Maria nach mehreren Studienaufenthalten eine Ausstellung ein.
Nach experimentell-avantgardistischen Anfängen beschäftigt sich Martin Schwarz intensiv mit Schopenhauer und der deutschen Romantik. Eine melancholisch-nihilistische Phase führt zur später wiederkehrenden Thematik des Verschwindens und des Nichts und zur Auseinandersetzung mit der Farbe Schwarz. Kunst über Kunst wird zentraler Aspekt eines intensiv reflektierten Schaffens, das sich in geschlossenen Werkgruppen verdichtet und immer wieder an Früheres anknüpft. Übermalungen populärer Meisterwerke gelten lange als Markenzeichen des Künstlers. Während er hier seine Retuschen perfekt der gedruckten Vorlage anpasst, eignet er sich später den Malduktus der Klassiker der Moderne an, aus deren Geist heraus er ihre verlorengegangenen oder nie verwirklichten Werke realisiert.
Die Interaktion kulturgeschichtlicher Reflexion und künstlerischer Praxis kulminiert in der Auseinandersetzung mit Gottfried Keller, ausgehend von dessen visionären Beschreibungen abstrakter und konkreter Kunst im Grünen Heinrich. Die Idee, den Inhalt eines Buches plastisch aus diesem herauswachsen zu sehen, lässt die ersten Buchobjekte entstehen. Anderseits führt das wahrnehmungskritische Spiel mit dem Bild als Massenprodukt zur Manipulation von Ansichtskarten, in (ihrerseits wieder reproduzierten) Collagen zu Themen wie Mein Kölner Dom oder Exotische Welten - Europäische Phantasien, später mit Hilfe des Computers, der auch für grössere Formate eingesetzt wird. Als Gegenpol zum konzeptuell-kulturkritischen Ansatz dieses Schaffens bleibt das Handwerkliche unvermindert wichtig: Mit der skurrilen Fantastik der Bilder und Objekte der 90er Jahre reagiert Martin Schwarz auf die Welt des Barock, die ihn an seinem Arbeitsort in Deutschland umgibt.
Werke: Kunstmuseum Winterthur, Wolfsburg, Städtische Galerie; Sils Maria, Nietzsche-Haus; Baden-Dättwil, Forschungszentrum der Brown Boveri; Winterthur, Hallenbad; Zürich, Universität Zürich-Irchel, Bibliothek; Zürich, Deckengestaltung im Zoologischen Museum.
Eigene Schriften: Martin Schwarz: Dokumentation. Winterthur, 1975.
Literatur: Martin Schwarz, Bilder + Objekte 1986-1989. Leinfelden-Echterdingen, städtische Galerie Filderhalle, 1989. [Texte:] Wolfgang Rainer [et al.]. Winterthur: EigenArt, 1989 [Bibliografie, Ausstellungsverzeichnis]. Martin Schwarz, Sonntagsmalerei mit Fallgruben. Eine Anthologie zu veränderten Bildern. Winterthur: EigenArt, 1984. Martin Schwarz, Am Rande der Kunst. Kunsthaus Zürich, 1981; Artothek der Stadt Köln, 1982. Winterthur: EigenArt, 1981. Martin Schwarz, Stuttgart, Kunstgebäude am Schlossplatz, 1978.

Peter André Bloch:
Martin Schwarz und sein Traum von der Überwindung von Raum und Zeit durch die Kunst
Martin Schwarz ist einer bedeutendesten Vertreter der Schweizer Postmoderne. In seinem Werk spiegelt sich in unverkennbarer Meisterschaft deren Versuch, die Grenzen von Raum und Zeit zu überwinden, im Hinblick auf eine ganz neu zu schaffende Wirklichkeit, mit je eigenen Perspektiven und Dimensionen. Ihn interessieren Übergänge: die unsere Zeit durchpulsenden Denkströme und Wirklichkeitsvorstellungen, die er miteinander verbindet und mit früheren Traditionsebenen kontrastiv-parodistisch in Beziehung setzt. Auf diese Weise entstehen in seiner schöpferischen Phantasie eigentliche Kultur- und Kunstlandschaften von synthetischer Ausdruckskraft, in denen alles fest in klaren Erscheinungsformen verankert scheint, deren Strukturen sich indessen wie assoziativ auf andere Vorstellungsebenen zubewegen, in einer ungewöhnlich einfallsreichen, kombinatorisch-offenen Gestaltung. In seriellen Abläufen werden dabei oft die einzelnen Stationen des Transformationsprozesses festgehalten. Denn den Künstler fasziniert das Entstehen und Entwickeln, die Kristallisation wie auch die Erosion, in ihrer Wirkung auf das Wahrnehmungsvermögen des Menschen. Sein Medium ist die Veränderung in der ganzen prozesshaften Unabgeschlossenheit von Werden und Vergehen.
Die Namen seiner wie naturhaft entstandenen Steinbücher weisen andeutungsvoll auf seine archetypisch wirkende, geheimnisvoll verschlüsselte Transformationsästhetik hin: "Denkströme", "kristallines Buchstabenbuch", "Meeresarchäologie", "Versteinerungen", "steinerne Faltung". Martin Schwarz entwirft monumentale Landkarten mit imaginären Landstrichen und Kontinenten, die irgendwie bekannten – erinnerten – Weltkarten gleichen im Sinne von vage zitierten, aber von ihm erfundenen, kunstvoll hergestellten Gegenwirklichkeiten. Diese bestückt er mir irisierenden, zauberhaft imaginierten Phänomenen: mit Blumenarabesken, herumfliegenden Paradiesvögeln, halluzinierten Steinfiguren, schattenhaften Tierzeichnungen, architektonisch gigantischen Meisterwerken. In digital perfekter Montagetechnik verfertigt er ganze Ansichtskartenserien, in denen sich verschiedene Wirklichkeiten ineinander verspiegeln, die er in gross angelegten Ausstellungen vorstellt, z.B. in Stuttgart durch den Württembergischen Kunstverein, unter dem Titel "Exotische Welten – Europäische Phantasien", oder im Nietzsche-Haus in Sils-Maria, mit dem Hinweis "Eine andere Illustration von Nietzsche-Gedanken". Unterschiedliche Wahrnehmungsperspektiven fügen sich in einem variationsreichen Puzzlespiel ineinander, so dass kaum noch auszumachen ist, was echt, wirklich oder erfunden, vielleicht bloss entworfen, ist. Mit Vorliebe inszeniert er Wortbilder in überraschender Aufhebung der unterschiedlichen Darstellungsebenen, in skurril-faszinierenden Bild- und Erfahrungsvermischungen, in denen sich der Himmel mit dem Wasser, Venedig mit rokokohaften Palastzeichnungen, afrikanische Vegetation mit Alpenwiesen, Natur mit der Technik und Technisches mit natürlichen Landschaftsvisionen vereinigt, in der gleichzeitigen Vergegenwärtigung von sonst zeitlich wie örtlich getrennten Erscheinungen. Die Wolkenkratzer Manhattans erscheinen in der Oberengadiner Landschaft am St. Moritzer See, bei Venedig rauschen die Stromschnellen der Niagarafälle, auf dem Meeresgrund begegnet ein Riesenwal einem ihm gleichenden Airbus. Martin Schwarz hat meisterhafte Serien mit den Motiven des Matterhorns und des Kölner Doms geschaffen, die ihm internationale Anerkennung einbrachte. Man erschrickt in seinen visionären Darstellungen über die Vermengung von Unkompatiblem und begeistert sich an deren Originalität.
Martin Schwarz ist einer der ersten Künstler seiner Generation, welcher mit Freude und Einfallskraft mit den neuen Darstellungsmöglichkeiten der Digitalkunst umzugehen verstehen, im Sinne einer neuen – ambivalenten – Weltsicht, wo Realität und Surrealität, Wirklichkeit und Wahnsinn, in satirisch gemeinter, gefährlich-abgründiger Provokation eins werden. In dieser materiellen wie ideellen Unabhängigkeit wird der Mensch unvermittelt zum Schöpfer seiner eigenen Wirklichkeit, indem er auf den vorgegebenen Realitätselementen und den eigen wie benommenen Ausdrucksformen wir auf einem Instrument zu spielen beginnt, mit virtuoser Selbstverständlichkeit und selbstbezogener Besessenheit. In dieser kreativen Ausnahmesituation wird er für sich zum Mass aller Dinge, zum Ausgangspunkt und Ziel seines Werks. Kann er denn – so die konsequente Frage – in dieser Selbstbezüglichkeit von anderen noch verstanden werden ? Oder werden seine Individual-Experimente zum unverständlichen Labyrinth für den ratlosen Betachter, der eine ihm fremde Rätselsprache zu entziffern sucht, um deren – mögliche – Botschaft noch zu entschlüsseln ? Ist der Endpunkt dieser Kunstentwicklung das autonome Künstler-Ich, wie es in Nietzsches "Zarathustra" angelegt ist, oder ist es gerade umgekehrt, indem sich eine rein dinghaft gewordene Welt im traumwandlerischen Schaffen des Künstlermediums wie von selbst formuliert, den traumhaften Eingebungen der Propheten und animistischen Zauberern vergleichbar, denen sie sich rückhaltlos unterwarfen ? Dürrenmatt sprach indes von der schlimmstmöglichen Wendung eines einmal zu Ende gedachten Gedanken, seine tragischen Visionen gleichzeitig in skurril-absurde Gleichnisse auflösend und damit Gelächter wie Ratlosigkeit erzeugend.
Auf der Gratwanderung zwischen begeisterter Ergriffenheit und ernüchterter Verzweiflung arbeitet Martin Schwarz, unentwegt auf der Suche nach neuen Sinngebungen und innovativen Ausdrucksformen. Dabei helfen ihm immer wieder seine kühnen Rückgriffe auf den weitgefächerten Kanon bestehender Kunsttraditionen, die er zitiert, imitiert und parodiert, um für sein kommunzierendes Schaffen noch einen gemeinsamen Nenner für den Betrachter zu finden, auf der Kippe zwischen Ernst und Schalk, Satire und Parodie. So hat er mehrer Kunst-Zyklen entwickelt, indem er – mit dem ihm eigenen Sinn für Transformation – vorgegebene Kunstwerke übernahm und im Stil ihres Schöpfers zu Ende dachte oder aber mit den Ausdruckformen anderer Malepochen konfrontierte: In seinen kunstvollen Umspielungen von Leonardo da Vinci‚s Mona Lisa, die er aus dem ursprünglichen Kontext wegzaubert, um die von ihr ursprünglich verdeckte Landschaft in ihrer ganzen – eigentlichen – Schönheit zu beschwören. Oder in seinen kühnen Varianten zu bekannten Werken; indem er z.B. Dem "Greislein" von Paul Klee einen trapezförmigen Partner verpasst oder Picassos "Acrobaten" mit einer nicht minder agilen "Acrobatin" ergänzt. René Magritte dient ihm mit seinen skurrilen Darstellungen ebenso als Vorlage wie der deutsche Romantiker Caspar David Friedrich, dessen "Kreidefelsen in Rügen" er unablässig umspielt, in immer neuen Varianten und Farbkombinationen, indem der die Grundperspektive beibehält, den Blick indessen von innen nach aussen wendet und schliesslich ins Unsichtbare auflöst. Seine Phantasie lässt ihn Wassily Kandinsky‚s Formstudien mit immer neuen Elementen durchsetzen, so dass man am Ende nicht mehr weiss, welches nun das Original ist und welches seine Spielformen. Zum Jahre 2000 löste Martin Schwarz viel bekannte Mariendarstellungen digital in je 2000 Kleinquadrate auf, um sie in verfremdeten Farbtönen – mit entsprechendem Kunstraster – in moderner Strahlkraft neu entstehen zu lassen.
Eine weitere Steigerung im Verfremden und Anverwandeln zeigt sich in seinen Versuchen, die Idee einer Kunstkammer im Sinne eines imaginären Museums durchzusetzen. Auf Schloss Bartenstein er eigene Objekte zusammen mit Werken unzähliger Kunstschaffender der Gegenwart, in unablässiger Veränderung des Ausstellungsgutes, mit dem Ziel der Schaffung eines Gesamtkunstwerks, das sich indes nur in unzähligen kleinen Einzelteilen zeigt. Auf Schloss Wartenfels ob Lostorf hat er dasselbe Konzept unter dem Titel "Kunstkammer der Ideen" im Sinne eines inszenierten Ideen-Theaters erneut in grossartiger Vielfalt umgesetzt, nach dem Prinzip der früheren Raritäten- und Wunder-Kabinette auf Renaissance- und Barock-Schlössern. In der digitalen Welt assoziativer Virtualität werden Surrealität und Realität eins: Im Traum von der Überwindung von Raum und Zeit durch die Kunst: in virtuosen Phantasmagorien und künstlich hergestellten ästhetischen Momenten. Dazu braucht es den Kunstkenner, der die vielen Anspielungen verstehend mitvollzieht, in kritischer Distanz und lustvoller Begeisterung. In seiner Wahrnehmung fügen sich die Prozesse des Gestaltens und gleichzeitigen Reflektierens wieder zusammen, in schöpferischer Neugier und anerkennender Aufnahmebereitschaft für das, was man Qualität und hohen Kunstverstand nennt.

Brigitte Hammer:
Musikalische Bildungsstätte Schloss Weikersheim
Eröffnung der Ausstellung MARTIN SCHWARZ
Sonntag, 9. August 1992, 11:00 Uhr
Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Zu einer aussergewöhnlichen Ausstellung heisse ich Sie herzlich willkommen. Aussergewöhnlich nenne ich die Ausstellung nicht deshalb, weil hier keine "normalen" Bilder und Skulpturen zu sehen sind, obwohl MATIN SCHWARZ auch ein vielseitiger Maler ist. Vielmehr wird Ihnen hier eine Kunst der besonderen Art präsentiert und ich möchte im folgenden versuchen Ihnen zu zeigen, worin für mich das Besondere dieser Kunst besteht. Die Kunst von MARTIN SCHWARZ ist selbstredend und vielsagend, aber auch mehrdeutig und eigen-artig, manchmal tiefschürfend oder leicht-sinnig, aber auch spitzfindig und schwer-mütig. Für diese Ausstellung hier im Schloss Weikersheim hat er fünf Kunst-Tische gestaltet und Sie werden sehen: Da hat er was angerichtet! Es beginnt aber schon hier im Vorraum: auf der Staffelei ein quadratisches Bild: das verkehrte Nichts. Die Buchstaben laufen in Spiegelschrift von Rechts nach Links und laufen so in die Richtung des Ausstellungsraumes, wo das Nichts kleiner wird und einem Etwas Raum gibt, und wenn wir das Nichts umkehren, und uns von ihm abwenden, stehen wir mit dem Rücken zum Nichts und haben Alles vor uns, die ganze Ausstellung, und wenn wir im Geiste von Tisch zu Tisch gehen, durchstreifen wir einen Teil des Kosmos, in dem die Kunst von MARTIN SCHWARZ sich ereignet.
Auf dem ersten Tisch liegen die Mineralienbücher - lauter Steine des Denk-Anstosses. Bücher sind uns Symbole des gesammelten Wissens der Menschheit, sie enthalten Wissenswertes oder Triviales, Weisheit oder Banalität, aber sie sind auch Zeichen der Vergänglichkeit und des Alterns, denn an Büchern werden Spuren des Gebrauchs und des Vergehens von Zeit besonders sichtbar. Im Gegensatz zu anderen Gegenständen des täglichen Gebrauchs, die zum Abfall oder Müll werden, pflegt man Bücher auch dann aufzubewahren, wenn die Spuren des Gebrauchs überhand nehmen. Wenn MARTIN SCHWARZ sie in die Hand bekommt und zu Mineralienbücher verarbeitet, wird dieser Aspekt des Alterns ebenso wie der des Trivialen aufgehoben. Und wenn sie zum Beispiel sein "Kleines Wüstenstück" betrachten oder das erste "Steinbuch" können Sie beobachten, wie sich durch die Bearbeitung des Künstlers Buch und Stein anverwandeln und Stein ist das Material, das uns die Dauer schlechthin verkörpert.
Zwischen den Buchobjekten werden Sie eines entdecken, das ein geflecktes Steinei umschliesst. Auch hier gibt die Musterung des Steins für den Maler die Vorgaben für die farbliche Gestaltung des Objektes. Das Ei gilt uns von altersher als Symbol für die sich ständig erneuernde Natur, das dem Altern und Vergänglichkeit des Individuums die aus dem Ei kommende Kraft des Neuschaffens und Werdens entgegensetzt. Und natürlich können wir auch an das sprichwörtliche "Ei des Kolumbus" denken, das in unserem Alltagsgebrauch eine besonders gelungen Idee bezeichnet.
Auf dem zweiten Tisch sind einige "Erinnerungen an Tina Ramses" versammelt, eine Figur, die in früheren künstlerischen Arbeiten von MARTIN SCHWARZ als des Künstlers alter ego eine gewisse Rolle gespielt hat und ihn durch einige seiner Projekte hindurch begleitet hat. Auf dem Tisch liegt eine schwarze Decke - ein ebenso verschlüsselter wie offensichtlicher Hinweis auf den Urheber des Arrangements. Darauf einige Objekte mit höchst poetischen Implikationen: in der gläsernen Vitrine liegt "Sie kämmte sich unter einem verwunschenen Apfelbaum" wie ein kostbares Relikt. Es bleibt unklar, ob wir hier ein Zeugnis einer wunderbaren Geschichte oder einer Katastrophe vor uns haben, und der Künstler stürzt uns hier mit voller Absicht in die Ambivalenz unserer Gedanken und Gefühle.
Der Dritte Tisch steht in der Mitte und gibt dem darauf liegenden Objekt, das aus Pappe die Buchstaben "LIEBE" formt eine zentrale Position in der Ausstellung. Es ist ein Objekt, das der Künstler für eine Ausstellung zum Thema "Arche Noah" gestaltet hat und auf dem Wasser schwimmen liess. Einige Fotos, die die abenteuerliche Reise der "LIEBE" auf dem Wasser festhalten, liegen ebenfalls auf dem Tisch. Was geht uns da so durch den Kopf, wenn wir vor diesem Bilderrätsel stehen?
Dass Pappe, wenn sie LIEBE formt, erstaunlich widerstandsfähig ist und auch die Form behält, wenn sie den Bach runter geht; dass LIEBE auch im Strudel der Stromschnelle oben schwimmt und die Wirbel überstehen kann! Und dass die "Arche Noah", wenn sie die LIEBE and Bord hat, der Menschheit die Hoffnung auf das Überleben sichert.
Der vierte Tisch trägt den Titel "Sein und Schein" und wenn sie an diesen herantreten, dürfen Sie Ihren Augen nicht mehr trauen. Da liegen Steine, gefundene und gestaltete, aber auch Objekte, die nur so aussehen, als seien sie aus Stein und sind in Wirklichkeit Gips oder Baumörtelmasse.
Da müssen Sie genau hinschauen, um zu entdecken, was für Rätsel und Merkwürdigkeiten der Künstler dort zusammengetragen hat, und bei manchen können Sie soviel hinschauen, wie Sie wollen, nur durch den Augenschein werden Sie nicht entscheiden können, ob das abgebissene Brot aus getrocknetem Teig oder aus Stein besteht. Hier gelingt es dem Künstler, unsere Sicherheit über die mit den Augen wahrgenommene Beschaffenheit der Welt, gründlich zu erschüttern. Wir können die Objekte nicht durch betrachten, also nur durch die "reine Anschauung" identifizieren hinsichtlich ihres Alters und Materials, ja nicht einmal über ihre Form können wir verlässliche Aussagen treffen.
So geniessen wir den Augenschmaus und verfallen gleichzeitig einer Täuschung der Sinne. Diese Irritation unseres "Für-wahr-Nehmens" ist eines der wesentlichen Anliegen in den künstlerischen Arbeiten von MARTIN SCHWARZ.
Die Augentäuschungen finden auf dem letzten Tisch mit dem Titel "Farbige Transparenz" ihren Höhepunkt. Der Tisch ist etwa je zur Hälfte mit einem grün-blau-gelb und rob-blau-gelb karierten Stoff gedeckt, darauf befinden sich Apothekerflaschen und Reagenzgläser aus transparentem Glas, die teils über, teils unter durchsichtigen Frischhaltefolien liegen. Wie beim Malen liegen also verschiedene Schichten übereinander und das Spiel von Licht und Schatten über und unter der Folie und zwischen den Falten des Stoffes erzeugt raffinierte Effekte, die der Maler noch zu steigern weiss, indem er in hauchfeinen Inseln reines Pigment in rot, grün, gelb und blau mit dem Sieb darüberstäubt. So entsteht eine Art dreidimensionaler Malerei, die im eigentlichen Sinn als "realistisch" zu bezeichnen ist, denn sie ereignet sich in der Wirklichkeit und stellt auf nie gesehene Weise unserer Sehgewohnheiten in Frage.
Die Inszenierung des Tisches der "Farbigen Transparenz" wirft ihre Fragen direkt und unmittelbar auf; hier erleben wir die Elemente der Malerei - Farbe und Licht - in ihrer ursprünglichen Gestalt. Aber zu den Grundlagen des Sehens gehört nicht nur das Wahr-Nehmen von Farbe und Form, sonder auch die Reflektion der Inhalte - in der Flut der ständig gegenwärtigen bewegten Bilder, die uns umgibt ein schwieriges Problem, da das Wahrnehmen und verstehen der Bilder mit grosser Geschwindigkeit geschieht und weitgehend unbewusst abläuft.
Teil der uns umgebenden Bilderflut ist der weltenumspannende Strom von Ansichtskarten, die Touristen aus aller Welt an die Daheimgebliebenen senden und wir alle wissen, wie gerade diese Bilder lügen können. Auf Ansichtspostarten scheint zum Beispiel immer die Sonne und der Himmel hat immer dasselbe Blau, als gäbe es in allen Druckereien der Welt nur ein einziges Himmelblau. Die Ansichtskarten haben auch dazu beigetragen, dass uns die berühmtesten Ziele touristischer Sehnsucht vertraut vorkommen, auch wenn wir sie noch nicht selbst besichtigt haben. Und wer je am Matterhorn war, weiss, wie schwierig es ist, einen Platz zu finden, an dem man diesen Berg, der wie kein anderer die Schweiz repräsentiert, so sieht, wie ihn die meisten Postkarten abbilden. Hier beginnt nun die Freiheit des Künstlers. Er zeigt uns das Matterhorn neben dem Fujijama, im Schaffhauser Rheinfall, am Rande der afrikanischen Savanne oder neben den Pyramiden - und immer liegt es im rechten Licht und immer sind die visuellen Angebote und Lösungen so überzeugend, dass wir schon mit unserem besseren Wissen in Widerstreit geraten können.
Und damit haben wir einen weiteren Punkt gefunden, der mir das Werk von MARTIN SCHWARZ bedeutsam macht: Es ist Kunst wider unser besseres Wissen, sie erweitert unser Denken, fordert unsere Assoziationsfähigkeit heraus und sie ist wahrhaft anstössig, denn sie hat überhaut keinen Respekt vor dem Trivialen!
MARTIN SCHWARZ ist als Künstler ein besessener Experimentator - nicht umsonst ist der Tisch 5 wie eine Alchimistenküche aufgebaut und die übrigen Tische wie Schautafeln eines Raritätenkabinetts - und als solcher führt er uns an die Anfänge europäischer Museen, als die Florentiner Medici im 16. Jahrhundert begannen, ihre Kunst- und Wunderkammern einzurichten. Damals wurde noch nicht zwischen Kunst und Wissenschaft unterschieden und die Entdeckung der Welt durch den forschenden Geist war für alle an diesem Prozess Beteiligten das reine Abenteuer.
Wir haben uns daran gewöhnt, die Ambivalenz des ungehemmten Forschens zu sehen und erkennen, dass uns die Grenzen des Wachstums zunehmend ins Blickfeld geraten. Und wir lernen, dass wir zukünftig auf die Simulation angewiesen sind, wenn wir wissen wollen, Was Wäre Wenn...? MARTIN SCHWARZ als unermüdlicher Bilder-Finder und Bild-Erfinder ist uns als radikaler Simulator ein gutes Stück voraus auf dem Wege zu virtuellen Wirklichkeiten.
Wir folgen ihm mit unseren Blicken und erleben kleine Abenteuer für die Augen. Diese erschliessen sich nicht dem flüchtigen Schauen, sondern nur dem konzentrierten und kontemplativen An-Schauen. Da können wir über Grenzen nachdenken, denn wir wissen, dass es an den Buchobjekten einen Übergang vom Papier zum Stein gibt, doch wir können ihm mit dem Auge nicht entdecken und wir können uns fragen, wie auf dem vierten Tisch wohl das Gesicht, das uns aus dem graugrünen Stein sanft und zart entgegen lächelt, dort hineingekommen ist.
Da ich die Ausstellung schon vor Ihnen gesehen habe, versuchte ich, Ihnen einige meiner Gedanken zu vermitteln, die mich beim Betrachten beschäftigt haben. Das soll Ihre eigene Sichtweise, auf das, was zu sehen ist, jedoch nicht beschränken - lassen Sie Ihre Augen über die Bücher und Steine spazieren gehen und tasten Sie die "Farbige Transparenz" auf allen Stufen ab, denn nur, was Sie mit eigenen Augen gesehen haben, wird Ihre Wahrnehmung schärfen und Ihre An-Schauungen bereichern.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören und wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Rundgang durch die Ausstellung von MARTIN SCHWARZ, die hiermit eröffnet ist.

Caroline Kesser:
Zur Eröffnung der Ausstellung von Martin Schwarz in der Galerie im Weissen Haus, Winterthur, 18. Oktober 1991
Meine Damen und Herren
Wir haben allen Grund zum Feiern: Mit der Ausstellung von Martin Schwarz weihen wir heute Abend im Weissen Haus eine erneuerte und vergrösserte Galerie ein. Die Koinzidenz ist bemerkenswert, 1969 debütierte Schwarz in eben diesen Räumen, wo er heute, 22 Jahre später, den Anfang einer neue Aera markiert. Dass der längst ausserhalb unserer Landesgrenzen bekannte Künstler mit einer Reihe von Buchobjekten in dieses Haus der Bücher zurückgekehrt ist, sei als weiterer glücklicher Umstand erwähnt.
Nun bin ich natürlich versucht, vom schönen Zusammenspiel und der gegenseitigen Treue zu schwärmen, lasse das aber, da diese Tugenden die Kunst, von der hier ja die Rede sein soll, nur am Rand tangiert. Die Vergegenwärtigung von Schwarzens erster professioneller Ausstellung drängt sich gleichwohl auf. Schon deshalb, weil sie hier in Form eines schwarzweissen Reliefs unerwartet, aber kaum zufällig auferstanden ist. Die Op Art-Objekte von einst und die Werke, die er heute unter dem schwindelerregenden Titel "Imaginationen, realisiert im Konstruktiven mit Phantasie und der Konstruktion von Phantastischem" präsentiert, verbindet ein Weg, der so abenteuerlich wie konsequent ist.
Martin Schwarz wagt sich immer wieder in Grenzbereicht vor, verzweigt und erweitert sein Interesse aber nur, um beim Thema zu bleiben. Stets geht es da um Fragen der Wahrnehmung beziehungsweise die Labilität der Erkenntnis, doch damit ist noch wenig gesagt. Seit seiner Op Art-Phase hat er sich nie mit der blossen Irritation begnügt. Ein Meister im Handhaben von Täuschungseffekten, verunsichert, verblüfft und überrascht er nicht allein aus Freude am Verwirrspiel. Das Spielerische, sein Witz und seine Ironie, sind zwar ein wesentliches Element in seiner Kunst, doch dahinter manifestiert sich, unverkennbar, die eigene Unsicherheit vor dem Unfassbaren der Existenz.
Wie nur ganz wenige, versteht es Schwarz, mit der Netzhaut auch das Grosshirn zu beschäftigen, zum Lachen oder wenigstens Schmunzeln und zum Nachdenken, ja Grübeln zu verleiten.
Mit Gedanken-Kunst, die die verschiedensten Sensorien anspricht, konfrontiert uns auch die Ausstellung, die wir heute eröffnen. Allerdings fehlen hier die Extreme, zu denen er im Lauf seiner Entwicklung phasenweise vorgestossen ist. Diese Werkschau wartet weder mit frechen Verfremdungen noch mit Abgrundvisionen auf. Bezeichnenderweise spielt hier die Farbe Schwarz, die sich seiner Produktion immer wieder bemächtigt hat, nur eine untergeordnete Rolle. Stattdessen herrschen Gold und Silber vor, wenn auch im gebrochenen Glanz der Patina und kaum als strahlende Edelmetalle.
Der Hang zum Dekorativen ist nicht zu übersehen, vor allem in der Serie der Hinterglasbilder, die den Kern der Ausstellung bilden. Ist Schwarz, der noch vor kurzem mit dem Begriff des Nichts rang und damit letzte Fragen auf Papier und Leinwand brachte, demnach heiter und zuversichtlich geworden? Auf den ersten Blick möchte man es annehmen. Schliesslich ist das Thema dieser Arbeiten ja die Versöhnung von Gegensätzen. Wie der Ausstellungstitel anzeigt, geht es um die Gleichzeitigkeit von Konstruktivem und Phantastischem.
Bestehende Ordnungsmodelle haben Schwarz schon immer zum Auflösen gereizt. Man denke nur an sein 1976/77 entstandenes Bild "Ein Widerspruch zu Mondrian", wo sich ein Efeu um das strenge Bildgerüst des holländischen Avantgardisten rankt. Umgekehrt hat er im scheinbar Gestaltlosen immer wieder Ordnungsstrukturen entdeckt oder entdecken lassen. Seine "Wahrnehmungsirritationen" waren stets auch Einladungen zur selbständigen Forschungsreise.
Die Grenzen zwischen Ordnung und Chaos sind in seinem Werk seit je offen und fliessend. Das gilt nach wie vor. In seinen jüngsten Hinterglasbildern tritt das Moment der Irritation allerdings zurück. Diese Bilder laden weniger zum Aufspüren als zur Versenkung ein. Nicht dass es hinter den Konstruktionen an der Oberfläche nichts zu entdecken gäbe. Ganz im Gegenteil: Was zunächst wie ein mehr oder weniger beliebiges Kontrastprogramm aussieht, bloss ein wildes, informelles Wogen, erweist sich bei näherer Betrachtung als ein Schatzkasten liebevoll ausgestalteter Mikrowelten. Mit einem handwerklichen Raffinement sondergleichen lässt Schwarz Geometrisches und Gestisches ineinanderfliessen, setzt er die unterschiedlichsten Muster in Beziehung, verdichtet und verdünnt er bruchlos Material. Die Hintergründe seiner Glasbilder sind ein Fest fürs Auge, geben sich aber erst preis, wenn der Blick die Oberfläche durchstossen hat.
Diese Bilder haben tatsächlich etwas Versöhnliches. Konstruktion und Phantasie widersprechen sich hier nicht. Die Strukturen mit den mehr oder weniger geordneten Quadraten und Balken bieten sich jedem, der mehr als einen flüchtigen Augenblick auf die Bildbetrachtung verwendet, als Einstieg ins unermessliche Reich der Phantasie an.
"Durch das Gitter der alltäglichen Wirklichkeit dringt die sanfte Kraft einer mystischen Besinnung", lautet der Titel eines der reichsten dieser Bilder. Damit wäre auch das viele Gold erklärt. Ob man die Lichtmystik, auf die Schwarz auch mit Fragmenten aus der arabischen Ornamentik anspielt, als solche wahrnimmt oder nicht: beim Versenken in die Malerei bekommt man unweigerlich das Gefühl, einen Sakralraum zu betreten.
Auf sakrale Kunst verweisen auch seine allerneuesten "Konstruktionen", inhaltlich wie formal. Dabei hat Schwarz hier nichts anderes getan, als das Werk von Leonardo da Vinci, Michelangelo und De la Tour (es könnten auch andere Künstler sein) zu einer Serie von vier mal vier Rechtecken zu ordnen und darüber ein von den Vorlagen unabhängiges Farbsystem zu legen. Was sich bei der Beschreibung wie eine respektlose Verfremdung von Meisterwerken anhören könnte, ist zu einer Verbeugung vor der Macht der Erscheinung geworden. Fordern seine Hinterglasbilder zum aktiven Durchdringen der Oberfläche auf, offenbart sich der Untergrund in dieser Werkgruppe geradezu mystisch. Scheinbar ohne jede Anstrengung drücken die Bilder noch durch die opaksten Farbflächen hindurch.
Nun habe ich das Angebot zur Besinnung und Versenkung, das diese Ausstellung - zweifellos wie keine frühere - enthält, möglicherweise überbetont. Bei aller Beschäftigung mit dem Transzendenten ist Martin Schwarz nämlich kritischer und skeptischer Zeitgenosse geblieben. Humor und Ironie sind ihm ebenso wenig abhanden gekommen wie die Lust am Sinnlichen. Dass sich Vergeistigung und der Sinn fürs Materielle keineswegs auszuschliessen brauchen, zeigen seine Hinterglasbilder sehr schön.
Die Freude am Material, am Formen und Gestalten, gehört so unabdingbar zu seiner Kunst wie der philosophische Hintergrund. Um eine eigene, unverwechselbar Handschrift hat er sich allerdings nie bemüht. Dagegen ist er stolz auf seine Fähigkeit, Malereien und Objekten den Anschein von organisch Gewachsenem zu geben. Der handwerkliche Ehrgeiz hat seinen tieferen Grund: Schwarz will nicht nur berichten von den Spuren der Zeit, sonder diese auch sichtbar werden lassen. Das macht er so perfekt, dass wir keinen Moment daran zweifeln, in den 15 Tafeln der Arbeit "Die Erinnerungen an den Vater" Dokumente aus der Zeit von Gottfried Keller vor uns zu haben, und auch überzeugt sind, der Piz im Buchobjekt "Rissiger Traum" habe sich von selbst entwickelt.
An dieser so natürlich wirkenden Patina liegt es denn sicher auch, wenn diese Ausstellung eher beruhigt als irritiert. Der Widerspruch, der im metallisch glänzenden Buchobjekt "Gehirnströme" noch zum Himmel schreit, schwächt sich unter dem Mantel des Organischen unwillkürlich ab. Das heisst nicht, dass er aufgehört hätte zu existieren. Angst und Zweifel bestehen weiterhin. So drückt sich in seinen Buchobjekten die Sorge um die Vergänglichkeit der Schrift noch im blühendsten Exemplar aus.

Wolfgang Rainer:
Das zweite Leben der Bilder
Zu den Gemälden und Buchobjekten von Martin Schwarz
Kunst ist nicht zwangsläufig das Resultat eines Dialogs zwischen dem Künstler-Ich und der Aussenwelt. Kunst entsteht oftmals selbst wieder aus Kunst, Bilder können Bilder hervorrufen. Dieses kunsthistorische Fakturm wird zwar nicht grundsätzlich geleugnet, doch immer wieder von der Lieblingsvorstellung des autonomen Originalgenies verdrängt. Nicht zuletzt von den Künstlern selbst, denen die Kritik den Zuritt zum Parnass nur gewähren möchte, wenn sie sich mit dem Patent völlig neuer Bildideen ausgewiesen haben. Zum sanktionierten Thema der Malerei konnte die direkt auf Vorbilder bezogene Kunst aus zweiter Hand deshalb erst werden, als Kunst überhaupt an sich zu zweifeln begann, als sie sich selbst zum Problem wurde.
Die Potenzangst der modernen Kunst vor kanonisierten Vorbildern hat sich in Marinettis "Futuristischem Manifest" von 1909 zu der provokativen Drohung verstiegen, alle Museen zu zerstören. Jahrzehnte später – die Revolution der Moderne hatte längst ihr eigenen Kinder gefressen – zeigt sich die Autorität der Museumskunst auf dem Höhepunkte ihrer inflatorischen Verbreitung ungebrochen, das Problem der Neuschöpfung von Bildern unabhängig von Vorbildern virulenter denn je.
Für den 1946 geborenen Schweizer Martin Schwarz konnte die frühe Begegnung mit den alten und modernen Meistern in den Sammlungen seiner Vaterstadt Winterthur bereits wieder "prägend" werden, wenn auch in einem ambivalenten Erfahrungsprozess von Faszination und kritischer Gegenwehr. Anders als Duchamp und Marinetti erlebte der gelernte Graphiker und seit 1968 freischaffende Kunstmacher, der sich zunächst eher didaktisch auf verschiedenen Feldern der Objekt- und Bewegungskunst versucht hatte, den Anspruch der Meisterbilder: nicht als Anreiz zu Vatermord und Bildersturm, sonder als intellektuelle Herausforderung.
In den siebziger Jahren begann Martin Schwarz, die zur Schau gestellten Bildvorgänge, die scheinbar unumstösslichen Botschaften berühmter Gemälde des Musée imaginaire hochnotpeinlich zu befragen, zu erforschen, was deren Aussagen verschwiegen. Er unterstellte, dass die Erscheinung der Bilder von vornherein trügerisch und mehrdeutig, jede Ikonographie lückenhaft und veränderbar sei. Bei seinem inquisitorischen Malverfahren bediente sich der Künstler grosser Farbreproduktionen, nach denen er durch Übermalungen "täuschend echte", inhaltlich jedoch variierte Neufassungen herstellte. Mit der Perfektion eines gewieften Restaurators glich er seine Eingriffe der jeweiligen Originaltechnik an, so dass man kaum bemerkte, wann die Imitation in Manipulation und diese in Interpretation umschlug. Die Pseudo-Originale, die unbotmässigen Zweitgerburten wussten am Ende alles besser als ihre Vorbilder.
Schwarz ging es vor allem darum, Scheinrealität zu entlarven, Ungesehenes, ein verborgenes "Manko" zu enthüllen, wobei die sophiatische Frage an das Kunstwerk lautete: "Was wäre, wenn ..."Wenn zum Beispiel der Vorhang vor Ingres‚ sitzendem Rückenakt zugezogen würde, wenn Goyas Maya sich hinweggestohlen hätte und nur als Kissenabdruck "anwesend" wäre, wenn auf Altdorfers "Alexanderschlacht" der Lanzenwald, das wimmelnde Heer, einem rätselhaften Pazifismus folgend, aus der Landschaft verschwände. Hinter der anfangs mitunter noch etwas vordergründigen malerischen Entblössung und Verführung berühmter Modelle erhob sich bereits die skeptische Frage nach dem Schein und dem Sein von Realität, nach der unausgefüllten Leere, nach dem grossen "Nichts" hinter den Dingen. Sie beschäftigt den Künstler bis zum heutigen Tag. Der philosophische Ansatz seiner nachdenklichen Malerei ist nicht zu übersehen. In der Mitte der achtziger Jahre tritt er noch deutlicher hervor, seitdem sich Martin Schwarz stärker als früher auf die existenzielle Seite des Kunstprozesse, auf die psychologisch-menschliche Aussage bestimmter Handschriften und Bildformulierungen konzentriert. Schwarz kommt es jetzt nicht mehr auf die verblüffende Nachahmung an, auf die glatte Perfektion und den Virtuoseneffekt des Trompe l'oeil. Sein Pinselstrich – ermalt nur noch in Öl auf Leinwand – ist rauher, die Malerei insgesamt offener und selbstbewusster geworden. Immer häufiger, immer mutiger wagt sie den Absprung vom Vorbild. Schwarz denunziert seine Modelle und Motive nicht mehr. Er respektiert sie, wenn er ihre Aussagen einkreist und komprimiert, wenn er den gefunden Grundgestus aufnimmt, isoliert und dramatisch forciert.
Bereits in der 1975 entstandenen Serie der "Fixierten Emotionen" nach van Gogh hatte Schwarz die Strahlungsenergie der expressiven Pinselschrift im Zyklopenauge konzentriert, was allein vom Selbstportrait übriggeblieben war. Inzwischen hat sie die intensive Beschäftigung mit van Goghs tragischer Künstlerexistenz zu einem zentralen Bilderzyklus ausgewachsen, der deutliche Züge von Identifikation trägt und die latenten Möglichkeiten der Vorbilder bis zur psychischen Abstraktion radikalisiert, so als hätte van Gogh in unserem Jahrhundert gelebt.
Meist hat Schwarz sich von Kunstbüchern und biographischen Quellen zu den Originalen hinführen lassen und von der Literatur aus deren Geheimnis zu ergründen versucht. Eine Briefstelle etwa kann eine bildnerische Neuinterpretation in Gang setzen. "Ich glaube", schreibt van Gogh im Mai 1890 an Bruder Theo, "man darf auf keinen Fall auf Dr. Gachet rechnen. Zunächst ist er kränker als ich, wie mir scheint, oder wenigstens ebenso krank. Wenn ein Blinder einen andere Blinden führt, fallen da nicht beide in den Graben?" Unter dem Eindruck dieser Sätze verliert das verhärmte Porträt des Dr. Gachet im 1988 entstandenen Nachbild von Martin Schwarz vollends seine Farbe; aus der nervös gestrichelten Grau-Textur blickt uns jetzt ein leichenhaftes Schemen an. Auf ähnliche Weise verwandelt die Kenntnis der tristen Lebensumstände in Arles die sonnengelbe Schlafkammer in ein nächtlich-fahles Sterbezimmer. Dann wieder verklären sich die Gräber der Brüder Vincent und Theo an der Friedhofmauer – den Hinweis gab ein Farbfoto – im vibrierenden Licht einer imaginären Sonne zum postumen "Van-Gogh-Gemälde", zu jener Apotheose, welche die Welt dem Brüderpaar schuldig geblieben war.
Über das Ikonographische und Biographische hinaus verselbständigen sich die Strukturen einzelner Vorbilder. Graphische Wirbel wachsen sich aus zu freien Abstraktionen, kurze graue, weisse und schwarze Striche ordnen sich zu schweren Balkengefügen. Van Goghs Vokabular hat sich – malerisch liquidiert - aus der Umklammerung der Kunstgeschichte befreit. Um exegetische Richtigkeit war es dem Künstler nie zu tun, immer nur um die Utopie der unausgeschöpften Möglichkeiten. Wie hätte sich sonst das van Goghsche Motiv der Kirche in Auvers in eine gipsweisse, pastose Monochromie auflösen können?
Didaktischer Ehrgeiz ist allerdings auch im Spiel. Er zeigt sich bei der demonstrativen Aufarbeitung der revolutionären Pioniertaten, bei der Rückverwandlung von Picassos vorkubistisch geschnitzten "Demoiselles von Avignon" in einen blauen Lyrismus ebenso wie bei Monet und Kandinsky-Paraphrasen. Schwarz hat immer neue Anläufe unternommen, Kunstgeschichte bis in irreale Bereiche weiterzudenken, Unbesetztes mit logischen Assoziationen auszufüllen.
Er geht dabei so weit, ungemalte, verschollene oder zerstörte Meisterwerke nach Reproduktionen zu rekonstruieren. Drei Werke von Gustav Klimt wurden uns auf diese Weise "wiedergeschenkt", darunter die 1945 verbrannte "Leda", das "Kreuz in Rosen" und die "Freundinnen". Ein offenbar unerträglicher künstlerischer Leeraum wurde dadurch gefüllt. Aber macht nicht die Nachschöpfung, deren grobkörnige Fraktur den glatten Schmelz der Klimtschen Technik mehr verleugnet als bewahrt, den unwiederbringlichen Verlust überhaupt erst bewusst? Schwarz sucht heute die Distanz zum Vorbild und geht dabei weitaus grössere Risiken ein als früher. Manche Bildmotive müssen abenteurliche Tests bestehen wie das van Goghsche "Mädchen mit Orange", das seine kindliche Unschuld im Glück eines riesigen Orangenberges, aber auch frierend im Schneetreiben, in den unterschiedlichsten malerischen Verkleidungen behaupten muss.
Die Wahrheit, hatten wir gesehen, steht hinter den Bildern. Inhalte, Stile, Handschriften sind nur Reflexe des Eigentlichen, das unsichtbar bleibt. Der zweite wichtige Werkkomplex neben den Bildervariationen versucht mit eklektizistischen Mitteln dieses Nichts, das ungreifbare Etwas malerisch zu umschreiben. Tatsächlich haben die sei 1986 entstandenen "Nichtsbilder", die in wechselnden Stilmasken die paradoxe Semantik eines eigentlich nicht darstellbaren Gegenstandes ad absurdum führen, mit Heideggerschen Gedankengängen zu tun. Schwarz, ein belesener Künstler, bekennt sich ausdrücklich zur philosophischen Lektüre. Zugleich wird die eigene kunstgeschichtliche Kenntnis hellsichtig relativiert: in pointilistischen, kubistischen oder malerisch "verwischenden" Versionen zum Beispiel. Eine skripturale Variante lässt das verwendete Buchstabenmaterial überhaupt nur im Lichtreflex erscheinen, in Form gekämmter, aus dem gemalten Schwarz hervortretender Strichlagen.
Umkreisten die Bildvariationen und die "Nichtsbilder" Unsichtbares, so ist es in der dritten Werkgruppe, in den Buchobjekten aus den letzten drei Schaffensjahren eine sinnlich greifbare Ding-Realität, die durch materielle Metamorphosen ihr Wesen, ihre Wurzeln, ihr Wachstum und ihre Geschichte enthüllt. Schwarz hat hier wieder "Originale", antiquarische Schwarten, als Vehikel für plastische Expeditionen ins Unbekannt eingesetzt, wobei sich die verwendeten Bücher auf handwerklich atemraubende Weise in Kunstobjekte verwandeln. Lässt das "Ammonitenbuch" 150 Millionen Jahre alte Fossilien aus aufgeschlagenen Druckseiten hervorwachsen – was auf die Endlichkeit unseres Buchwissens hindeuten mag -, so geht das Papier in der "Alten Symbiose" bruchlos über in hölzernes Wurzelwerk, in den Stoff, aus dem es hervorgegangen ist.
Manche Bücher beschwören "Sein und Zeit" unserer Gegenwart oder weisen gar voraus in eine elektronische, dem Buch womöglich tödliche Zukunft ("Gehirnströme", 1989). Dann wieder starren Seiten, zu Blech gefaltet oder kostbar versteinert. Das Naturmaterial überwuchert und vernichtet das Menschenwerk – eine deutliche Metapher für Vergänglichkeit, Tod und Wandlung, ein Problemkreis, der für die gesamte existenzielle Situation dieses Künstlers gültig bleibt, selbst dann wenn sich das Bild mit Virtuosität und trickreicher Spielartistik maskiert. Am Ende bildet das zerfallende Papier den Humus für neues Formwachstum, wie die variierten und fragmentierten Meisterwerke, deren unzerstörbare Substanz in der permanenten Verwandlung weiterlebt.

Fritz Billeter:
Von Veränderungen und vom Verschwindenlassen
Martin Schwarz in der Galerie 16a
Der Maler Fred Engelbert Knecht führt eine Galerie an der Ausstellungsstrasse 16 a. Gegenwärtig zeigt er bis zum 19. April von dem 1946 geborenen, in Winterthur lebenden Martin Schwarz eine gedrängte Retrospektive in vierzig Nummern und einige Bücher, die von oder über Schwarz geschrieben worden sind.
Martin Schwarz visualisiert Ideen, er ist ein Konzeptkünstler, neben dem Aargauer Max Matter der wichtigste der Deutschschweiz. Europäische Vergleiche braucht er nicht zu scheuen.
Der Zwanzigjährige begann tachistisch, oder er schwelgte in Nostalgie. In den frühen siebziger Jahren brachte er trickreiche Apparate heraus: einen, der den Kopf des Betrachters in ein fahles Gespenst verwandelt, verwandt mit Figuren von H.R. Giger, mit dem Schwarz manchmal zusammenarbeitet; einen weiteren, sehr aufwändigen, der gestörte Kommunikation demonstriert (nicht in der Ausstellung); eine Brille, die den Gesichtswinkel verschiebt und die Umgebung seitenverkehrt erscheinen lässt; eine Flasche, die eine hinter ihr angebrachte Schrift im Mittelstück ausblendet, so dass man nur noch UNS ...BAR lesen kann.
Schwarz ist überhaupt gross im Verschwindenlassen. Das hat er uns vor allem auch in seinen Bildveränderungen grosser Meister in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre gezeigt. Er verwendet für solche Operationen Kunstdrucke, die er mit dem Pinsel oder fotografisch manipuliert. Dafür einige Beispiele: das Selbstbildnis des frühen Rembrandt wurde so verdunkelt und mit Kraquelüren versehen, dass wir eine Antiquität vor uns haben. Mit Rembrandts "Nachtwache", dem Porträtauftrag einer Korporalsschaft, die sich dank der Restauratoren als Tagwache herausgestellt hatte, wurde bei Schwarz umgekehrt zu einer "Nachtschwarzen Nachtwache oder die Wache in der Nacht". Bruegels "Turmbau zu Babel" wurde so verdüstert, dass nur noch eine Ruine nach dem Atomschlag übrigbleibt. Goays "Maya nue" wird in drei Phasen verändert: zuerst die "originale" Maya, auf dem zweiten Bild die Kurtisane in durchsichtiger Reizwäsche; auf dem dritten Bild hat sie die Kissenlandschaft ihres Lagers verlassen.
Anfangs der achtziger Jahre hat Schwarz Fotos und Collagen bearbeitet, z.B. sieben mal sieben Katzen mit lockigem Haar derart, dass ihre Gesichter und Mähnen sich zu narkotischen Wirbeln verdichten, oder so, dass ein Kriegsfoto wirklich etwas vom tödlichen Getümmel eines Gefechts wiedergibt.
Martin Schwarz pflegt (augenzwinkernd) auch eine makabre Strähne. So ist in der Ausstellung ein Selbstporträt als Röntgenbild mit Brille zu sehen oder ein "Porträt" von Giftpflanzen: Schwarz in Schwarz, ein Kombinat von Pflanzennamen mit einer Kreuzstruktur.

Rudolf Koella:
Martin Schwarz (Kunst-Bulletin Nr. 3, März 1984)
Maler und Grafiker, Fotograf und Filmer. Objektmacher und Buchmacher. Aktionist und Galerist. Denker, Schreiber und Verleger: der 1946 geborene Martin Schwarz gehört sicher zu den vielseitigsten Talenten auf der Schweizer Kunstszene. Immer wieder überrascht er die Öffentlichkeit mit neuen, ungewöhnlichen Hervorbringungen, die sich, um einen seiner Buchtitel zu zitieren, oft mehr "am Rande der Kunst" bewegen. Auch am Rande des offiziellen Kunstbetriebs. Sein Beitrag zur letzten Ausstellung der Zürcher Künstler in den Züspa-Hallen bestand nicht in einer Einsendung eigener Bilder (wofür er als Winterthurer gar kein Recht gehabt hätte), vielmehr brachte er in den Kojen anderer Aussteller vorgedruckte "Komplimentrurkunden mit Prädikat" an, auf die er, den gängigen Kunstkritikerjargon persiflierend, Wertungen wie "in Einsamkeit für uns geboren", "bewahrungswürdig", "engagiert", "eröffnet eine neue Dimension", "bedeutungstief", "begnadet", "flott und locker" schrieb. Verärgert scheint von den Betroffenen niemand gewesen zu sein, was auch keineswegs die Intention von Martin Schwarz war. Seine Aktion richtete sich ja nicht gegen die Aussteller selber, sondern gegen uns, die Besucher, mit unseren festgefahrenen Sehgewohnheiten.
Auf eine Veränderung festgefahrener Sehgewohnheiten ging die künstlerische Tätigkeit von Martin Schwarz schon immer aus. Er hat früh begriffen, dass wir die Dinge letztlich nicht so sehen, wie sie sind, sondern so, wie wir sie zu sehen gewohnt sind. Also müssten wir wieder lernen, die Dinge neu zu sehen, ihnen die Aura zurückzugeben, die sie durch ihre Reproduzierbarkeit verloren haben.
Was Wunder, dass zu seinen ersten öffentlich gezeigten Arbeiten kinetische Objekte und Kommunikationsinstrumente aller Art gehörten (um 1970). Und wer erinnert sich nicht an jene Bildverfremdungen, die er zwischen 1972 und 1982 in grosser Zahl anfertigte? Mit Übermalungen und Überklebungen wurden da Reproduktionen von Meisterwerken der Kunst scheinbar völlig pietätlos verändert. Das Schweisstuch der heiligen Veronika ist zu Boden gefallen, von der liegenden Maya bleibt nur der Körperabdruck zurück, und um das Gitterwerk eines Mondrian rankt sich neckisch Efeu. Verfremdungen nannte Schwarz diese Bilder, deren Ziel es war, das zum Verbrauchsartikel degradierte Kunstwerk durch eine pointierte Veränderung in eine neue, aktuelle Realität einzubringen. Denn - so Walter Aue - die Zerstörung der Kunst von gestern (mit den Mitteln der Kunst) hat schon immer die Überführung der Kunst ins Heute bedeutet. Nach dem Motto "Kunstgeschichte ist eine Wahrheit voller Lügen" hat er immer wieder die Konserven angebohrt, in welche die Kunstgeschichte die Kunst abgefüllt hat, ihre Etiketten ausgewechselt oder ihr gar fremde Produkte untergeschoben. 1978 etwa verkündete er einer erstaunten Öffentlichkeit, er habe ein verschollenes, nur noch als Schwarzweissreproduktion bekanntes Gemälde von Caspar David Friedrich wiederentdeckt, den "Klosterfriedhof im Schnee", wenigstens als Ruine, und als Ruine hat er das Bild tatsächlich nachgemalt. Ein Jahr später rekonstruierte er aufgrund gewisser Textstellen im "Grünen Heinrich " die Kritzelzeichnungen Gottfried Kellers, "die ersten abstrakten Bilder der Kunstgeschichte". Und im Rahmen der Ausstellung "Mein Kölner Dom" stellte er 1980 mit Hilfe von Fotocollagen eine Serie von Postkarten her, welche das "wunderbare" gotische Baudenkmal in allen möglichen touristischen Umgebungen zeigen: auf einem Minigolfplatz, auf der Colonia San Jordi, in der kalifornischen Wüste, vor dem Matterhorn usw. Denn auf die eigene rhetorische Frage, ob der Dom nur noch "ein Souvenirartikel vergangener Träume" sei, antwortete er: "Vielleicht muss der Dom, seinem transzendierenden Sinn entsprechend, immer der Welt fremd bleiben und könnte darum seinen heimatlosen Platz eigentlich überall auf unserer Erde haben."
Wahrnehmungsirritation nennt Schwarz dieses künstlerische Vorgehen, bei dem es nicht so sehr um gestalterische Probleme geht, sonder um Erkenntnis. Seine Verfremdungen vorgefundener Inhalte gehören im Grunde der Objektkunst an, wobei in diesem Falle die Kunstgeschichte selber zum Objekt der künstlerischen Verfremdungsarbeit geworden ist. Doch gleichzeitig sind sie auch Ideenkunst, weil Schwarz das vorgefunden Objekt durch seine ironische Verfremdung in einen neuen, aktuellen Sinneszusammenhang bringt. Nie aber zielen seine Verfremdungen auf eine Trivialisierung der Kunst, ganz im Gegenteil, Martin Schwarz versucht, gerade das durch die moderne Massenkultur zum Konsumartikel erniedrigte Kunstobjekt der Trivialisierung zu entziehen, indem er es aus seiner gewohnten Umgebung rückt.
Das gilt in besonderem Masse für die neueste Verfremdungsarbeit des Künstlers, die "Sonntagsmalerei mit Fallgruben". In Brockenhäusern und auf Flohmärkten stöberte er während Jahren Bilder von Hobbykünstler auf, die er im Atelier mit subtilen pointierten Übermalungen veränderte. Um einen brav dargestellten stacheligen Kaktus rankt sich nun Stacheldraht, und neben dem Holzchalet flattert fröhlich im Bergwind die Piratenfahne (wobei das Ganze jetzt "Das Ferienhäuschen des ehrlichen Maklers" heisst). Das bedeutet das "Sonntägliche", Idyllische dieser Fundobjekte wird vom Künstler wiederum in Frage gestellt, die ungestillte Sehnsucht nach der heilen Welt, die zu diesen rührend naiven Werken beflügelte, erweist sich jetzt als Lug und Trug. Mit minimalen Eingriffen holt sie Martin Schwarz in den brutalen, von Tod und Zerstörung bedrohten Alltag zurück.
Eben hat Schwarz in seinem EigenArt-Verlag ein Buch über diese "Sonntagsmalerei mit Fallgruben" herausgebracht, das nicht nur ein gescheites Vorwort von Martin Kraft enthält, sonder auch eine Vielzahl von Kommentaren zu den einzelnen Bildern, verfasst von Schreibern, die der Verlag mit einem Rundbrief um ihre Mitarbeit bat. So wird hier, wie es im Vorwort heisst, über die rein malerische Verfremdungsarbeit hinaus der erzählerische Realismus dieser Bilder zum Anlass, ihre Unwirklichkeit auf die heutige Wirklichkeit hin "fortzuschreiben" - ein Vorgang, der wie immer im Werk von Martin Schwarz, die Grenzen des Bildnerischen gegen das Literarisch-Philosophische überschreitet.
In einem Interview mit dem Malerfreund H. R. Giger meinte Schwarz zu dieser Arbeit, manche Sonntagsmaler würden sein Vorgehen wohl verstehen, sich vielleicht sogar geschmeichelt fühlen, "denn diese Bilder waren eigentlich verlorene Bilder. Sie standen rum, niemand wollte sie... Ich möchte die Sonntagsmaler nicht veröden oder lächerlich machen, sondern etwas dazufügen, sie interessanter und zeitgemässer machen." Durch seine Übermalungen würden sie gleichsam dämonisiert, sie seien nun ein Zeugnis von der Kraft und der Wirklichkeit des Bösen, des Zerstörerischen oder des Kriegs. "Sollten solche Themen nicht gemalt werden?"
Sie sollten. Auch Martin Schwarz hat sie gemalt, nicht nur in versteckter Form wie in den "Sonntagsmalerei mit Fallgruben". Seit Anfang 1980 sind, parallel zu diesen "Sonntagsmalereien" sogenannte "Angstbilder" entstanden, die, wie der Künstler selber sagt, Zeugnis ablegen vom immer weiter um sich greifenden Klima der Angst und Bedrohung, vor allem aber von seiner ganz persönlichen Furcht vor einer ungewissen Zukunft. Es sind schwarze Bilder in jeder Hinsicht, chaotisch in ihrer Organisation und wie mit Rost und Russ gemalt. Zu erkennen ist in dem Gewirr vorerst kaum etwas, dann tauchen darin Friedhöfe, Vorstadtslums und Schrotthalden auf, erleuchtet vom Blitz gespenstischer Explosionen, manchmal auch von Balken überlagert wie von einer brutalen Panzersperre.
Als Martin Schwarz einige dieser Bilder 1981 im Foyer des Zürcher Kunsthauses ausstellte, lösten sie fast nur Befremden aus. Beirren liess er sich dadurch aber nicht, sonder ging den eingeschlagenen Weg weiter, allerdings in modifizierter, vertiefter Form. Die Bilder wurden nun trotz grösserer Formate nicht nur klarer organisiert, sie erhielten auch gleichsam einen realistischen Hintergrund, bestehend aus puzzleartig aufgeklebten Wirklichkeitsfetzen: Reproduktionen von Grosstadtansichten, von Zivilisationsmüll, von Maschinen, Flugobjekten und Waffen zum Beispiel. Über diesen Collageelementen liegt dann eine zweite malerische Schicht, die gewisse Einzelheiten des Untergrunds verdeutlicht, andere verschleiert und das Ganze in einen einzigen Strudel von hektischer Bewegung und kaltem Licht reisst. "Keine Romantik" heisst eines dieser neuesten Bilder (1983). Es ist die Vision einer gottverlassenen nächtlichen Welt, die nur noch von Vogelscheuchen bevölkert scheint. Doch trotz Jagdflugzeugen und Bomben, Grabkreuzen und Totenschädeln steckt auch in diesem Bild eine versöhnliche Note: im Humor nämlich, der aus gewissen Details spricht. Mit seinem Humor, der ohnehin eine wesentliche schöpferische Qualität von Martin Schwarz ist, rettet sich der Künstler wiederum vor einer allzu nihilistischen Weltsicht, auch wenn es ein sehr schwarzer - eben Schwarzscher - Humor st.
Unter dem Titel "Malen mit Bildern" stellt Martin Schwarz bis zum 1. März (1984) im Kunstmuseum Winterthur eine Reihe dieser neuesten Werke aus, zusammen mit einer Auswahl aus seinen "Sonntagsmalereien mit Fallgruben".

Martin Kraft: (aus "du", Nr. 4/1983)
Verwandelte Sonntagsmaler
Martin Schwarz und seine Veränderungen von Freizeitkunst
In den Veränderungen klassischer Meisterwerke, die dann so etwas wie sein Markenzeichen wurden, ist die Auseinandersetzung von Martin Schwarz mit den Bedingungen des Wahrnehmens und Erkennens (von Kunst), zwischen philosophischer Spekulation und bildhaftem Ausdruck oszillierend, vielleicht am anschaulichsten geworden. Das in der tausendfachen Reproduktion missbrauchte und verbrauchte Werk gewinnt durch ein Moment der Irritation – ein Ueberschreiten des "fruchtbaren Augenblicks", ein Verändern der Perspektive, der Sehweise, der Beleuchtung – von neuem lebensvolle Wirklichkeit. Es war dann nur folgerichtig, die Verwandlung trivialisierter Kunstwerke auf eine triviale Bildwelt selbst zu übertragen. Das Massenprodukt Postkarte wurde mit der surrealistischen Kombination verschiedener "Motive" zur Grundlage phantastischer Kompositionen von irritierendem Reiz, wobei der Dom der Stadt Köln – in welcher der Künstler sein Atelier hat – zum verbindenden Topos jener "Imaginären Domlandschaften" wurde, welche der kölnische Kunstverein 1981 wieder als Postkarten edierte.
Von hier war es ein vielleicht kleiner, aber entscheidender Schritt zu einer gerne als "Postkartenmalerei" etikettierten Hobby-Kunst. Die Werke der Kunstgeschichte hatten eine "andere Sicht" damit herausgefordert, dass sie zuviel – diejenigen der Sonntagsmaler dadurch, dass sie überhaupt nicht mehr beachtet wurden. Martin Schwarz fand sie bei Trödlern, auf Flohmärkten und in Brockenhäusern, erfüllt vom Bedauern ob der Unmenge des mit viel gutem Willen und mit viel Liebe Geschaffenen und nun völligem Vergessen preisgeben.
Und dies ist entscheidend: dass seine Uebermalungen dieser Bilder, die er nun zu sammeln begann, bei aller Ironie solchem Bedauern entsprangen und nicht jener verächtlichen Herablassung, die andere Künstler dabei empfinden und an welche die "entlarvende" Verfremdung mancher Vorlagen denken lässt.
Martin Schwarz, 1946 in Winterthur geborene, hat in seiner Heimatstadt in jungen Jahren selber einem Verein von Hobbymalern angehört. Er zeigt sich noch heute beeindruckt von der Ernsthaftigkeit, mit der sie arbeiteten, die Kunstgeschichte studierten, neue Techniken diskutierten und experimentierfreudig erprobten, beeindruckt von der Sympathie, die sie, frei von der Rivalität und dem Brotneid vieler Professioneller, miteinander verband, beeindruckt von der aufrichten Bewunderung auch, die sie dem Begabteren entgegenbrachten, der so freilich bald zum Aussenseiter wurde, aber auch ausserhalb ihres Kreises eine gewisse Verbundenheit mit ihnen bewahrte. Es ergibt sich daraus auch die deutliche Abgrenzung solcher Sonntagsmaler gegenüber einer mit ihr scheinverwandten Strassen- und Warenhausmalerei, die – wenn auch mit vergleichbarem Ergebnis – rein geschäftsmässig und ohne innere Beteiligung produziert wird. Solche oft schwierigen Grenzbestimmungen offenbaren letztlich die geistige Tragweite des Projektes: Wo ist heute, da gelegentlich schon fehlende Malkultur als genuin künstlerische Qualität deklariert wird, denn noch der verbindliche Unterschied zwischen professioneller und hobbymässiger Malerei? Tatsächlich nähert sich die letztere mit wachsendem technischem Können gelegentlich unübersehbar der ersteren, scheint ihr naiv-erzählerischer Realismus umzukippen in einen der mehr oder weniger aktuellen "Realismen" oder eine eigenständige Tendenz meint. Vor solchen Werken verbietet sich dann plötzlich die umdeutende Korrektur von selbst. Und doch tut sich dann wieder der tiefe Graben auf zwischen einem Realismus, wie er seit dem vergangenen Jahrhundert unreflektiert weiter tradiert und trivialisiert wurde, und einem anderen, der die heutige Unmöglichkeit solchen Ab-Bildens mit vermittelt und so zu einer neuen, zeitgemässen Bildlichkeit vorstösst.
Gewiss kann man auch heute noch Landschaften – nach wie vor ein Hauptmotiv der Sonntagskünstler – malen, aber man kann sie nicht mehr in dieser Weise malen. Das Wort "Sonntagsmaler" drückt mit aus was sie verbindet: dass sie nur "Sonntägliches", nie Negatives malen. Ihre unreflektierte Sehnsucht, die zur Nicht-Uebereinstimmung mit der Wirklichkeit führt, wird zum Hauptansatz der – schon mit einem minimen Eingriff bewerkstelligten – Umdeutung. Die Idylle erscheint plötzlich in einer "anderen Ansicht", einer nächtlichen, im Zeichen von Tod und Zerstörung stehenden: Der Sonntagshimmel wird schwarz verdüstert oder lässt zwischen rosa Wolken einen Atompilz aufsteigen; vor dem Ferienhäuschen weht die Totenkopffahne, und in der Winterlandschaft erhebt sich ein entsprechend makabrer Schneemann. Ein Kreuz wächst voll Todesahnung aus einem Bootssteg oder bedeckt Augen und Mund einer nun sprach- und blicklos gewordenen Heiligen; ein Flugzeug attackiert ein Haus oder versinkt ein einem Meerhafen; ein Berg explodiert oder befindet sich in magischer Auflösung.
Am unmittelbarsten fassbar wird der Sinn solcher Verwandlung vielleicht in jenem Strauss von Geranien, die ein deutscher Sonntagskünstler 1943 mitten in den Greueln des Krieges malte und die sich nun in Totenköpfe veränderten. Solches Wissen um die Herkunft eines Bildes ist freilich die Ausnahme; die von Schwarz "verwandelten" Künstler sind ihm persönlich durchwegs unbekannt, zu einem grossen Teil überhaupt anonym. Die Frage nach ihrer Individualität würde spätestens dann aktuell, wenn einer von ihnen das (zumindest moralische) Recht auf seine unversehrte Schöpfung beanspruchte. Doch die Uebermalung liesse sich ja, einmal fotografisch festgehalten, am Original durchaus wieder entfernen: Die Umdeutung bleibt nicht der materiellen Wirklichkeit des Einzelwerkes verhaftet, ist ein geistiger Akt, der von jenem bemerkenswert homogenen "kollektiven Bewusstsein" Der Sonntagsmaler ausgeht, welches durch ein solche Einzelwerk – eines unter Abertausenden – repräsentiert wird.
Der erzählerische Realismus dieser Maler wird dabei zum Anlass, die Unwirklichkeit ihrer Bilder auf die heutige Wirklichkeit hin "fortzuschreiben"; ein Vorgang der – wie immer wieder im Werk von Martin Schwarz – die Grenzen des Bildnerischen gegen das Literarisch-Philosophische hin überschreitet. Ein Fortschreiben auch im wörtlichen Sinne, verbunden mit der Aufforderung an den Betrachter, die hier vollzogene Aenderung in Worte, in eine Geschichte zu fassen. Es gehört zu den aufschlussreichen Wechselwirkung zwischen Wort und Bild, welche dieses Projekt sichtbar macht, dass sich bisher vor allem Maler zu solchen Geschichten anregen liessen.
Getragen wird das Projekt vom EigenArt Verlag, den Martin Schwarz in Winterthur gegründet hat, um mit ihm solche Projekte – eigene und zusammen mit anderen erarbeitete – zu verwirklichen. Ein Buch mit veränderten Bildern und dazugehörigen Geschichten ist geplant. Doch wäre das Unternehmen damit noch in keiner Weise abgeschlossen, bliebe weiterhin nach allen Seiten offen auf das hier nicht nur ironisierte, sondern vielleicht einmal wirklich veränderte Bewusstsein der Sonntagsmalerein hin, das ja auch dasjenige vieler Kunst-Betrachter ist – auf die heutige Kunst selber hin, deren Affinität zu populären bis trivialen Denk- und Bildwelten einmal philosophierend wie (um)gestaltend auf den Grund gegangen wird. Die Frage nach der Zeitlosigkeit wie Zeitbedingtheit realistischer Darstellungsweise und ihrer Verkitschung, die Frage nach künstlerischer Qualität, die sich ja weder in derjenigen nach technischer Perfektion noch in derjenigen nach geistiger Bewältigung erschöpft, die Frage vor allem nach Möglichkeiten und Grenzen einer "demokratischen" Kunst, ob und inwiefern sie jedem offen steht, als Lebenselement oder gar als von jedem einzelnen zu Erzeugendes – solche Fragen erscheinen hier auf eine neue geistige und doch immer wieder an der bildlichen Anschauung überprüfbare Grundlage gestellt.

Martin Kraft: (Der Landbote, Samstag, 16. April 1983)
Ein Verleger am Rande der Kunst
Ein Künstler wird zum Verleger: Dieser Entwicklungsprozess ist Ausdruck innerer Notwendigkeit beim Winterthurer Martin Schwarz, für den das "Kunstmachen" schon seit je die Grenzen des blossen Bildens gesprengt hat und immer wieder auf Projekte hinführt, die sich konsequent wohl nur in einem eigenen Verlag verwirklichen lassen.
Mit ihrem hohen intellektuellen Anspruch, ihrem stets neu ansetzenden Vorstossen in literarische Bereiche auch, hat die Kunst von Martin Schwarz, obwohl immer wieder zum ganz in sich selber ruhenden Bild zurückkehrend, seit je eine starke Affinität zum Medium Buch gezeigt. Der Entschluss, einen eigenen Verlag zu gründen, ist denn auch langsam herangereift. Entscheiden war wohl jener Punkt in der künstlerischen Entwicklung von Martin Schwarz, wo er, in der "Verwandlung" von vorgegebenen Kunstwerken jahrelang die Möglichkeiten und Grenzen des Wahrnehmens und bildnerischen Sich-Mitteilens erprobend, die vielfältige Bildwelt der Ansichtskarten entdeckte: Tausendfach verbreitete triviale Vorlagen, die nach verändernden Eingriffen plötzlich auf eine surreale, künstlerische Ebene mit vieldeutiger Aussage gehoben wurden.
"Grüsse von der Westkunst"
War es da nicht einzig konsequent, diese neuen "Postkarten" in serienmässiger Produktion auf höherer Ebene wieder ihrer ursprünglichen Verwendung zuzuführen? In Köln, wo Martin Schwarz abwechselnd mit Winterthur arbeitet, fand 1981 die weltweit beachtete, grossangelegte Übersichtsausstellung "Westkunst" statt; und die Postkartenserie "Grüsse von der Westkunst" war denn auch das erste Verlagsprojekt, das der Künstler, gemeinsam mit dem renommierten Kölner Buchhändler Walther König, verwirklichte. Solche Gemeinsamkeit ist ein Wesensmerkmal des EigenArt-Verlags geblieben: Er dient wohl jenen Projekten, die sich ohne ihn nicht verwirklichen liessen, kapselt sich aber nicht in falschverstandener "Autonomie" gegen andere ab, wenn sich dasselbe Anliegen besser in Zusammenarbeit mit ähnlich orientierten Unternehmen verwirklichen lässt. Was natürlich nicht zuletzt eine wirtschaftliche Frage ist: Bei aller Unabhängigkeit des eigenen Produzierens lässt sich das so oder so grosse Risiko wesentlich vermindern. Solche Zusammenarbeit kann sich auch auf den Vertrieb beschränken, auf die Mitbenutzung einer bestehenden gutorganisierten Verteilstruktur, umgekehrt auf die freundschaftliche Propagierung eines "fremden" Produkts im eigenen Interessentenkreis.
"Am Rande der Kunst"
Das erste ganz im Alleingang verwirklichte Projekt war dann 1981 die Begleitpublikation zur grossen Werkschau im Zürcher Kunsthaus, ein Ausstellungskatalog und doch viel mehr als dies. Unter dem Titel "Am Rande der Kunst" umkreist hier Martin Schwarz schreibend, deutend, dokumentierend das eigene Schaffen, es vertiefend und zugleich in höhere Bezüge stellend, Bezüge vor allem zum Malerdichter Gottfried Keller, dem sich der schreibende Maler Martin Schwarz, aus Anregungen des verehrten Meisters Kunstäusserungen von brisanter Aktualität gewinnend, über die Zeiten hinweg verbunden weiss.
Wenn hier der Verlag ganz im Dienste des eigenen Werkes steht, so bedeutet das letztlich nicht mehr, als dass sich dieses Werk erst in eigener verlegerischer Tätigkeit voll verwirklichen lässt, die aber ebenso auch befreundeten anderen Künstlern dient: Von verschiedenen geplanten Grafik-Editionen ist bisher eine Serigrafie des Malerfreundes François Viscontini entstanden, bei deren kompliziertem Herstellungsprozess Martin Schwarz massgeblich verlegerisch mitgewirkt hat.
"Verwandelte Sonntagsmaler"
Während früher einmal die Veränderungen klassischer Meisterwerke eine Art Markenzeichen von Martin Schwarz waren, führt er gegenwärtig das damals Erprobte in der Verwandlung von Freizeitkunst konsequent weiter: Am Anfang stand die Begegnung mit jenen Werken von Sonntagsmalern, die scharenweise in Brockenhäusern und auf Flohmärkten herumstehen und deren künstlerische Energien – die meist in einem so kläglichen Missverhältnis zum wirklich Geleisteten stehen – Martin Schwarz nun teilnahmsvoll mit subtilen Eingriffen zu neuer Spannung und Aktualität erweckt: Da wird die "sonntägliche" Idylle plötzlich wieder in jener Fragwürdigkeit und Brüchigkeit gezeigt, über die ihr Schöpfer in so hilflos verräterischer Weise hinwegzutäuschen versuchte: Der ewigblaue Himmel verdüstert sich schwarz, die Landschaft steht im Banne technischer Zerstörung oder ist von seltsamen Gestalten und Zeichen bevölkert.
Gerade die geistige Tragweite solcher Veränderungen sprengt freilich den Rahmen des (zunächst dilettantischen) Bildens. Der erzählerische Charakter dieser Malereien wird zum Ausgangspunkt, nun auch ihren vieldeutigen Verwandlungen von neuem erzählend nachzugehen. Und tatsächlich haben sich schon zahlreiche (teils bekannte) Autoren von diesen verwandelten Sonntagsmalern zu eigenen Geschichten anregen lassen. Gerade hier wird das Ziel ein (wohl nur im eigenen Verlage mögliches) Buch sein, das die Bilder und ihre möglichst zahlreichen sprachlichen Umsetzungen im vieldeutigen Bezug zueinander zeigt.
In ihrer irritierenden Bildhaftigkeit ist diese "Sonntagsmalerei mit Fallgruben" – so der Ausstellungstitel – nun zunächst erstmals in einer zusammenfassenden Übersicht in der Kunsthandlung Walter Lüssi in Winterthur zu sehen. Eine Auswahl von Bildern verbindend besteht dazu auf Tonband das Gedicht "In den Bärgen – sind nicht nur Zwärgen" von Albrecht/d., Stuttgart.
Die Ausstellung dauert bis zum 29. April 1983

Monika Jühlen (Bonner General-Anzeiger, 25.2.1982):
Gut Freund mit alten Meistern
Werke von Martin Schwarz in der Galerie Klein
Während die jungen Maler früherer Generationen voller Ehrfurcht zu den alten Meistern aufblickten, scheinen die Künstler von heute mit ihren grossen Kollegen von gestern recht vertraulich zu verkehren. Es ist gewiss ein beachtenswertes Phänomen, dass sich gerade in einer Zeit vielgestaltiger ästhetischer Neuorientierung das Spiel mit Zitaten aus der Kunstgeschichte als nahezu unerschöpflicher "Dauerbrenner" der internationalen Szene entpuppt hat.
So respektlos, wie sie auf den ersten Blick wirken mögen, sind diese augenzwinkernden Hommagen an die Grossen von einst gewiss nicht gemeint. Sie beweisen vielmehr, dass die Avantgarde nicht nur geistreich zu reflektieren versteht, sondern durchaus einen ebenso ausgeprägten Sinn für intelligenten, hintergründigen Humor besitzt. Doch es soll nicht bloss gelacht werden: Hinter der spassigen Eulenspiegelei steckt eine ernstzunehmende Auseinandersetzung mit der Fragwürdigkeit von Wirklichkeit und Abbild, einer Problematik die – seit sich die Kunst von der Bindung an den Gegenstand befreit hat – auf der Grundlage verschiedenster Theorien diskutiert und bisweilen gar ad absurdum geführt worden ist. Die Kunst als Thema der Kunst, die Entthronung des Genies und die Selbstbespiegelung des Künstlers gehen – wie fast alle Glaubensbekenntnisse der Avantgarde – im Ansatz auf den Dadaismus zurück – man denke nur an Francis Picabias bissiges "Porträt de Cézanne" in Gestalt eines Affens.
Zu den brillantesten, raffiniertesten und witzigsten Parodisten der Ahnen von Rembrandt bis Pollock gehört der 36jährige Schweizer Martin Schwarz, dessen Bilder, Collagen und Übermalungen bis zum 13. März in der Galerie Klein zu vergnüglicher Besichtigung einladen. Auf ironische Weise verwandelt Schwarz bei seinen Diptychen und Serien altbekannte, massenweise reproduzierte Vorlagen, die einerseits beim Betrachter spontan ein wohliges Gefühl der Vertrautheit wecken, ihn andererseits aber auch durch trickreiche optische Fallen immer wieder auf höchst genüssliche Weise irritieren, um schliesslich über den Umweg der Verfremdung "Original und Fälschung" gleichermassen neu erfahrbar werden zu lassen. Indem er die üblichen Sehgewohnheiten kurzerhand auf den Kopf stellt, appelliert Schwarz also auch an eine Regeneration der herkömmlichen, auf leicht verdauliche Konsumierbarkeit ausgerichtete Rezeption des Kunstwerks schlechthin, wobei er zugleich eine Brücke zwischen Tradition und Erneuerung zu schlagen versteht.
Weit über den reinen Schmunzeleffekt hinaus vermitteln seine Werke Denkanstösse, die mit bisweilen bewusst vordergründigen Effekten die Klassiker vom Sockel zu holen und in menschliche und allzu menschliche Dimensionen zurückzuführen. Verschämt verbirgt Ingres "Odaliske" ihr Gesicht, blonde Lockenpracht bedeckt Dürers Antlitz, Amor und Psyche lieben sich im Vogeklkäfig, Altdofers Madonna versinkt in den giftigen Dämpfen eines Atompilzes und von einer vielfigurigen, turbulenten Breughel-Szenerie bleibt nur eine einsame, geknechtete Gestalt vor einer düsteren Architekturkulisse mit einem winzigen, Vergänglichkeit verheissenden Stilleben im Vordergrund.
Ebenso wie das gleichsam korrigierende Umdeuten gehört die Verhüllung zu Martin Schwarz‚ wesentlichen Stilmitteln, gleich ob er nun Rembrandts "Nachtwache" in tiefe Dunkelheit versenkt, die Kerze von de la Tours "Madelaine" langsam erlöschen lässt oder schliesslich van Goghs Sternenhimmel in totale Finsternis eintaucht. Auch das sicherlich wichtigste Bild der Ausstellung – die düstere, von Spuren der Zeit durchzogene Neuschöpfung des verschollenen "Klosterfriedhofs im Schnee" von C.D. Friedrich – ist in diesem Zusammenhang zu verstehen. Nicht minder unbekümmert verfuhr Schwarz mit dem Kölner Dom, den er in einer zur Ausstellung "Mein Kölner Dom" im Kölnischen Kunstverein geschaffenen Collage-Serie mittels Schere und Klebstoff an den Canale Grande, in ein Indianer-Camp oder eine Alpenlandschaft verfrachtete.
In seinen jüngsten Gemälden malt sich Schwarz ohne Rückgriff auf Zitate seine eigenen Ängste von der Seele: Die aufgewühlten, explosiven Kompositionen mit wild in den Raum geschleuderten Formfragmenten, gepeinigten Körpern und mahnend aufragenden Grabkreuzen stehen nur scheinbar im Widerspruch zu den sinnesfreudigen Bildern früherer Jahre, in denen jene dumpf melancholische Memento-Mori-Stimmung bald verhalten, bald eindringlich spürbar war.

Lili Sommer: (Basler Magazin, Nr. 2, 9. Januar 1982)
Bilder der Angst
Eigentlich wäre es ein Leichtes, Martin Schwarz als Schwarzmaler abzutun. Schwarz ist seine Lieblingsfarbe und er hat eine Serie Angstbilder gemalt.
Bis im Sommer 1980, fünfzehn Jahre lang, war ein altes Stellwerkhäuschen dem Winterthurer Künstler Martin Schwarz Atelier und Zuflucht. Baggerzahn und Pressluftbohrer vertreiben ihn aus der Scheinsicherheit dieses Schlupfwinkels. Vorher habe er noch über seine Angst gelacht, an einem geliebten Ort die Türe zum letzten Mal zu schliessen. In der Folge sind seine Angstbilder entstanden, mit Bildtiteln, die nicht nur auf Angst, sondern auch auf Aggression hindeuten: "Tödliche Destruktion", "Wirbelndes Chaos", "Verlorengegangene Erlösung", "Kriegerische Paranoia".
Heute wohnt und arbeitet Martin Schwarz in einem ehemaligen Pfarrhaus, vis-à-vis der Kirche und am Rande des Friedhofs von Oberwinterthur, dem "Hohlandhaus", mit Blick auf die Industrievorstadt und einem Heer von Gräbern. Zufall oder gar schwarzer Humor? Der 35jährige Künstler macht aus seiner Faszination für alte Gräber, für das Vergängliche überhaupt, keinen Hehl. In seinem neuesten Bildband "Am Rande der Kunst" sticht unter einer Serie Photographien von verfallenden Gräbern eine Grabplatte mit dem Namen Martin Schwarz hervor. Im Text daneben steht: "Empfand der Träger dieses schwarzen Namens vor seiner ewigen Nacht, so wie ich, sich manchmal nur als einen Schatten und sein Leben als einen Irrtum und einen Traum?"
"Am Rande der Kunst – teilweise dem Grünen Heinrich nachempfunden – eine Bildergeschichte" hat Martin Schwarz anlässlich seiner letztjährigen Ausstellung im Kunsthaus Zürich mit der Unterstützung von Pro Helvetia im EigenArt-Verlag herausgegeben. Eine ziemlich textlastige Bildergeschichte, in der sich der Autor zeitweise mit Gottfried Kellers autobiographischer Romanfigur, dem Grünen Heinrich, identifiziert und, in zum Teil fiktiven Personen unterstellten Monologen, nach dem Sinn der Kunst, des Seins überhaupt, bohrt. Den Versuch, dem Schein und der Wirklichkeit verbal auf die Spur zu kommen, betrachtet er nach diesen "vielen Wörtern" als gescheitert.
Ähnlich dem jungen Gottfried Keller, der sich in München malend zu der Erkenntnis durchrang, die Malerei zugunsten der Schriftstellerei besser aufzugeben, brachte das Schreiben dieser Texte Martin Schwarz die Einsicht, künftig der Malerei absolute Priorität einzuräumen. Er will sich nun nicht mehr darin erschöpfen, den Bildern zu misstrauen. "Früher hinterfragte ich vorerst einmal jede Wahrnehmung, bevor ich mich an ein Bild heranwagte", sagt er, "heute brauche ich nicht mehr alles zu wissen". Heinrich von Kleist sei am Gedanken, dass alles eine umfassende Illusion sein könnte, verzweifelt. Beinahe sei es ihm ähnlich ergangen.
Ab 1968, nach einer Graphiker-Lithographenlehre, figuriert Martin Schwarz als freischaffender Kunstmacher auf seiner offiziellen Biographie. Bis 1972 realisierte er, intrigiert von den unzähligen optischen und akustischen (Täuschungs-)Möglichkeiten, Bewegungsstudien, Kommunikationsinstrumente, verspiegelte Objekte und visualisierte Begriffe. Versuche, das NICHTS sichtbar zu machen, führten zu seinen Abwesenheits-, Verhüllungs- und Metamorphosebildern. Bestandene Klassiker, unter der Ehrfurcht des Kunstpublikums seit Jahrzehnten und Jahrhunderten zu Kunstdenkmälern erstarrt, erfuhren durch Verfremdung Erweckung aus dem tödlichen Stillstand.
Da gab es plötzlich keine liegende Maya mehr auf Goyas berühmten Gemälde, nur noch den Abdruck ihres Körpers auf dem Kissen, oder von Brueghels Turm zu Babel blieb nur noch ein Trümmerhaufen zurück, und über einen Mondrian kletterte als Widerspruch eine Efeuranke. Mehr als ums Rütteln an Kunstdenkmälern ging es Martin Schwarz beim Übermalen der Farbdrucke darum, das Bild hinter dem Bild sichtbar zu machen und nach dem Raum hinter der geschlossenen Türe zu fragen.
In seinen jüngsten Werken wählte er weniger oft den Umweg über Bestehendes, die Angstbilder könnten direkter nicht sein.
Als ich Martin Schwarz an einem der letzten sonnigen Herbsttage besuchte, blieben die dunklen (schwarzen?) Vorhänge vor den kleinen Fenstern beharrlich zugezogen. Wollte er die Ängste und Zweifel im Haus einschliessen, um sie später mit Pinsel und Acrylfarbe zu fixieren? Versuchte er sie aufzuhalten, auszuhalten?
Schwarz sei nicht unbedingt die Farbe der Trauer und des Todes, belehrte mich der mit Vorliebe schwarzgekleidete Martin Schwarz. "Für mich symbolisiert sie das Geheimnis".
Die Angstbilder als Zeuge einer Eskalation der Furcht in seiner gegenwärtigen Existenz auszulegen, findet er verfehlt. "Angst manifestiert sich auch auf meinen früheren Verfremdungsbildern, denn Angst hat viele Gesichter", meint er. Angst kann der übermächtige Kölner Dom an Rande eines lieblichen Bergbächleins sein. Angst ist eine Menschenmenge, die nirgends endet, in der die Individualität des einzelnen zum Punkt schwindet. Angst spricht aus dem "Versteck der Liebe", die Angst vor dem Verschlungenwerden in der Verschlingung.
Martin Schwarz kennt seine Ängste, Angst vor Lähmung, Eingesperrtsein, nicht arbeiten können. Furcht vor Krieg, Zerstörung, Weltuntergang, die Ängste unserer Zeit, hat er seismographisch registriert und bildlich umgesetzt.
Die Ausstellung Martin Schwarz in der Galiere 57, Seevorstadt 57, in Biel, ist noch vom 11. bis 16. Januar 1982 geöffnet.

Martin Schwarz:
Text zu den imaginären Domlandschaften.
Edition Kölnischer Kunstverein 1981
Der Kölner Dom und sein Überirdisches auf Erden
Ich komme aus der Bahnofshalle und imponierend hoch und gross, wenn es nicht so ein verbrauchtes Worte wäre, würde ich sagen "wunderbar", bemächtigt sich der Dom meiner sehenden Augen. Dann frage ich mich, welche Sehnsucht nach einer höheren Welt, deren Bilder und Begriffe des unzweifelhaften Glaubens es ermöglich haben, dass dieses kolossale Mauerwerk gestaltete Wirklichkeit wurde. Geisteswelten müssen es gewesen sein, durchdrungen von verehrenden Huldigungen, knechtenden Schicksalen der Jenseitsfurcht, verzichtender Demut in Frömmigkeit und Hoffnung auf Ewiges. Grösstenteils entleert von solchen Sinngehalten steht heute der Dom, immer noch verletzt von den barbarischen Kriegsgewinnern, verloren, entwürdigt zwischen Foto- und Souvenirläden, verlottert durch die Anwesenheit der Domlotterie und umvölkert mit den nihilistischen Prozessionen von Rollbrettfahren, Touristengaffer und Rockkonzertaggressoren. So sind die Krämer nicht weit aus dem Tempel getrieben, und für sie ist die Dommauer keine undurchdringliche Grenze. Der Dom ist wie ein monumentales Denkmal für Gott, der wie viele glauben, nie existierte, und der sich darum von uns Menschen nicht abwenden kann oder sich vertreiben lässt. Das Gute ist selbstloses Mühen, sagt man, so auch dieses Werk der vergebenen Sehnsucht, dass letztlich unser Dasein nicht dem Nichts angehört. Ist der Dom nur noch ein Souvenierartikel vergangener Träume, den niemand in die Tasche stecken kann? Die Ernüchterung und die Aufklärung hilft uns der "weltlichen Realität" näher zu sein, mit ihren politischen Machtspielen, mitreissenden Tanzmoden und psychologischen Deuteleien, jedoch getrennt von Büssen, Betten und Pilgern. Immer unberührter gehen die Menschen vorbei an dem Tempel der Verehrung Gottes (und dieser Gott soll die Liebe sein) in die Niederungen der "Hohen Strasse". Dort begegnen wir dann schon bald den heutigen Liebemachereien. In den exhibionistischen Schaufenstern der Sex-Shops sehen wir die Stachelgummireibgeräte und das Lederfett, das der Gefühlsverarmung in der höllischen Analhöhle dient. Sowenig oder soviel wie die werdende Fruchtbarkeit, die in einer anderen Höhle beheimatet ist, mit den Ausscheidungen zu tun hat, so nah oder so fern ist die Liebe mit den Leiden verbunden, ist das Irdische vom Überirdischen getrennt.
Niemand weiss die Wahrheit, alles ist absurd, unergründlich und geheimnisvoll, "denn nur der Irrtum ist das Leben und das Wissen der Tod", und wir beginnen erst zu erkennen, wie wenig wir wissen. Vielleicht muss der Dom, seinem transzendierenden Sinn entsprechend, immer der Welt fremd bleiben und könnte darum seinen heimatlosen Platz eigentlich überall auf unsere Erde haben.

Caroline Kesser: (Tages-Anzeiger, 18. Dezember 1978)
Die fliessenden Grenzen der Bedeutsamkeit
Zu den Werken von Martin Schwarz in der Winterthurer Galerie ge
Auf Friedhöfen in Köln ist Martin Schwarz (1946 in Winterthur geboren) aufgelösten Gräbern begegnet, die dem natürlichen Zerfall überlassen wurden. Das langsame Versinken menschlicher Existenz hat er darauf in der Photoserie "Verlorene Namen" festgehalten. Es war nicht nur das ungewohnte Aussehen dieser Gräber, das ihn anzog. Martin Schwarz sah sich durch sie auf eigenartig eindringliche Weise mit der Vergänglichkeit konfrontiert – ein Thema, das ihn immer wieder beschäftigt. Die "Entweihung" der letzten Ruhestätte durch die wuchernde Natur steht potenziert für das Tabu, mit dem die Vorstellung des Todes belegt ist. Gleichzeitig ist sie eine Antwort auf die von Schwarz immer wieder gestellte Frage nach den Merkmalen der Bedeutsamkeit und den Grenzen des individuell Bedeutsamen. Wenn er eine 1600fältige Porträtgalerie illustrer Männer gerade so weit übermalt, dass die Hülle der Persönlichkeiten bestehen bleibt, die Individualität aber ausgelöscht wird, nimmt er einen Eingriff vor, dessen Konsequenz zu den Vorgängen auf den Kölner Friedhöfen führen würde, wo mit dem Namen das letzte Anzeichen für ein Menschendasein verschwindet.
Bei seinen Bearbeitungen berühmter Kunstwerke ist etwas ähnliches zu beobachten: Seine Verfremdungen, die er durch Übermalen, Umkehren, Reduzieren oder Weglassen erreicht, sind nicht bloss optische Irritationen. Sie zeigen gerade auch, wie weit das Charakteristische eines Bildes den äusseren Eingriffen standhält, durch sie hervorgehoben oder verwischt wird. Die mit schwarzer Ölfarbe übermalten Sonnenblumen Van Goghs leben aus der Spannung zwischen bewahrter Originalität und ihrem ins Gegenteil verkehrten Ausdruck. Dadurch, dass Schwarz einen Reiter Kandinskys stürzen lässt, die Komposition dabei möglichst wenig verändert, fordert er zum genaueren Betrachten des Originals auf, vor dem dann etwa Kandinskys Abstraktionen verständlicher werden.
Wahrnehmungs-Irritationen
Dass unsere Wahrnehmung auch weitgehend von unserer Imagination bestimmt wird, zeigt Martin Schwarz mit einer Reihe übermalter Photocollagen, seinen "Wahrnehmungs-Irritationen". Als Vorlagen hat er vielfigurige Photos benützt, wo der einzelne fast schon zum Punkt aufgelöst ist. Ausgehend von der vorhandenen Bildstruktur und den besonderen Tonwerten, bringt er mit dem Pinsel Verunklärungen an, so dass die Grenzen des konkreten Bedeutungsträgers Bild und der Nebelzonen, in die nur noch hineinprojiziert wird, ins Fliessen geraten. Am stärksten sind jene Arbeiten die die formale Auflösung mit einer inhaltlichen parallel gehen lassen, wie dies bei einer Begräbnisszene sehr gut gelungen ist. Spielkarten, die eine bemalte Rückseite, aber kein erkennbares Bild enthalten, bietet Schwarz zum imaginären Spiel an. Das Ausgelöschte soll wieder mit Inhalten gefüllt werden.
Bild und Text
An der letzten Zürcher Weihnachtsausstellung war Martin Schwarz nur mit einem Text vertreten. Statt ein Bild aus der Sammlung des Kunsthauses zu variieren oder zu zitieren, wie der Auftrag lautete, hat er eine Geschichte erfunden, die das Lebendigwerden von Füsslis "Schweigen" beschreibt. Das Wort spielt bei ihm nach wie vor eine grosse Rolle. Mit Texten, die er neben ein Bild setzt, bringt er den sprachlichen Ausdruck in die Nähe des bildnerischen. Umgekehrt verleiten ihn geschriebene Worte zur Umsetzung ins Bild. Manchmal fühlt er auch ganz einfach die Notwendigkeit, über seine gestalterische Arbeit aufzuklären. Schwarz ist ein Künstler, der andere beim Wort nimmt, den man selber beim Wort nehmen darf, der noch verstanden werden will.
Die Ausstellung dauert bis zum 5. Januar 1980

Tilman Osterwold:
Zu den Bildvariationen von Martin Schwarz:
Die Vorstellung von Systemen – das System der Vorstellung
Die Versuche des Menschen, bestehende Wirklichkeit mitsamt ihren Erfordernissen durch idealistisch geprägte Vorstellungen und Bilder zu überhöhen oder auch zu verdrängen, fanden seit jeher Unterstützung durch bestimmte Philosophien, Ordnungssysteme, ethische Vorstellungen, epochale Weltanschauungen und anderes. Sie binden die Tätigkeit des Menschen in Grundregeln, die seinen Erfahrungsaustausch mit den Dingen, seine Einwirkungen auf die Dinge relativieren und in den höheren Zusammenhang einer Wirkungsgeschichte einordnen. Im wesentlichen gehen derartige Vorstellungen von dem Erfolg des Menschen aus, pressen ihn sogar zuweilen in einen Leistungszwang, der alle menschliche und augenblickliche Tätigkeit auf irgendwo angesiedelte Ziele von Glück, Freiheit, Fortschritt oder ähnlichem hin orientiert. In der Regel überschreitet der Mensch dabei eine Gegenwart, deren Inhalt sich aufgrund realer Konstellationen möglicherweise in eine Gegenrichtung hinein orientiert, die dem Interesse und den Hoffnungen des Menschen zuwider läuft und ihm auch meist zuwider ist: In die Richtung der Vergänglichkeit, der Katastrophe, des Chaos, des Nichts. Hier könnte Martin Schwarz ansetzen: So sehr der Mensch auch weiss, dass seine Entstehung, seine Tätigkeit, seine Erfolge und seine Hoffnungen aus dieser Ursubstanz des Nichts heraus entstanden sind, besteht sein zentrales Bemühen in der Ordnung und Systematik undurchschaubarer chaotischer Zusammenhänge; sein fortschritts-euphorischer Erfolgszwang ist auf Angst vor dem "Rückfall" in ein ungewisses Nichts aufgebaut. Dabei vergisst der Mensch möglicherweise, dass dieses Nichts keine Leere, sonder in seiner Fülle alles ist, dass es Substanz und Gegenwart ist, dass der Zyklus zwischen Werden und Vergehen, zwischen Zerstörung und Hoffnung ein von der Natur her gegebener und von den Vorstellungen, Bildern, Tätigkeiten und damit geschaffenen "Sicherheiten" des Menschen nicht zu durchbrechender Zusammenhang ist. So beruhen Bilder auf Täuschungen, Vorstellungen und Fiktionen, Sicherheit, Systeme, Ordnungen auf Verdrängungen.
Der Verzicht auf Vorstellungen – Die Vorstellung von Verzicht
Ein künstlerischer Ausdruck unserer Zeit, der sich auf ein romantisches Bild bezieht, mag diesen Verdrängungsmechanismus erklären: Die verschollene Weimarer Landschaft mit dem Regenbongen von Caspar David Friedrich (1810) wurde von Martin Schwarz auf heutige Bewusstseinsstufen hin korrigiert (s. Abb.). Friedrich hatte in seinem Bild an Goethes Gedicht "Schäfers Klagelied" angeknüpft und den Regenbogen als Motiv menschlicher Sehnsucht nach Freiheit – auch im Sinne von Liebe und Hoffnung – vor einen dunklen Himmelsgrund über eine schlichte Landschaft gesetzt. Ein abgebrochener Baumstumpf macht die Vergänglichkeit präsent, während der Mensch seinem Sehnen nach Leben, Liebe und Zukunft nachgeht. Der Regenbogen geht vom Menschen aus wie die Sprechblase eines Gedankens in eine ungewisse Ferne, mit dem er aus seiner Einsamkeit heraustreten will. Der Regenbogen steht als Wille und Gefühl, aus persönlichen Quellen heraus in eine ungewisse Welt einzutreten und Kontakt mit dem kosmischen Ganzen der Natur und Gott – menschlich realisiert in der Sehnsucht nach Liebe – zu verbinden. In der veränderten Kopie von Martin Schwarz fehlt der Hinweis auf die menschliche Vergänglichkeit (Baumstumpf), der Hirte als persönlicher Ausdrucksträger innerhalb der Natur, sowie der Regenbogen im Gefühlsdialog zwischen Mensch und Natur. Allerdings, der Himmel ist gelichtet, der Kondensstreifen eines Jets zieht seine Bahn – "über die Wolken" in eine "grenzenlose Freiheit"? Schwarz‚ Verfremdung des Friedrichschen Bildes enthält Melancholie: denn grenzenlose Wünsche und Gefühle haben etwas mit Ungewissheit zu tun. Der Regenbogen ist kein Garant mehr für eine bessere Welt, man verzichtet besser auf ihn, nimm ihn – wie Schwarz – im wörtlichen Sinne aus dem romantischen Bild heraus. Er macht damit deutlich, wie in sich geschlossen das romantische Weltbild im Vergleich zum unsrigen war; der Bogen den Friedrichs Bild schliesst und bindet das Verhältnis Mensch-Natur-Welt: Die rechts heraustretende, in ungewisse "über die Wolken" angesiedelte Ferne gleitende Linie des Kondensstreifens wird sich irgendwo verlieren. Möglicherweise führt diese von Technologie geprägte zarte Linie ins Nichts, und die "grenzenlose Freiheit" entlarvt sich als optische Täuschung bzw. Fata Morgana. Der Verzicht auf den Regenbogen bedeutet Verzicht auf Euphorie und Traumbilder von Glück, Fortschritt und falscher "Romantik". Die Hoffnungsfreude auf eine bessere Welt wird als Seifenblase menschlicher Unfähigkeit entlarvt, wenn man meint, die Gestaltung einer besseren Welt durch den Glauben an Bilder zu ersetzen, wobei der Regenbogen das romantisierende Bild und Zeichen unserer Zeit ist (s.T.O. in: Regenbögen für eine bessere Welt, Württ. Kunstverein, 1977, S.42 f.).
Der Frei-Raum und die Fülle des Nichts
Martin Schwarz hat bestimmte Bilder der klassischen Kunstgeschichte für seine reproduktiven Veränderungen ausgesucht, die eine Aussage treffen über die Art der Vorstellungen, mit denen der Mensch versucht, über die reale Dingwelt hinweg Brücken zu absoluten Erkenntnissen und Ordnungen zu schlagen: z.B. Glaube, Hoffnung, Liebe, Friede, Fortschritt, Freiheit, Glück, Schönheit, Illusion, auch Kunst als Ausdrucksträger introvertierter und esoterischer Haltungen und Vorstellungen. Die Geste des Verhüllens, der Verneinung, die Martin Schwarz in seinen Veränderungen vornimmt, betrifft die Illusionen und Vorstellungen von der Realität, nicht die Realität der Dargestellten selbst. Die Abwesenheit nimmt den Dingen ihre strahlende positive Gegenwart, die Verhüllung verleiht ihnen eine geheimnisvolle Realität, das Ende führt sie wieder auf den Anfang zurück, das Bild wird durch die Veränderung in einen zyklischen Zusammenhang von Werden und Vergehen gestellt (wenn alles Irdische vergeht, warum nicht Bilder und Illusionen). Es wird von einer ironsichen feinfühligen Melancholie hinterfragt und neu entdeckt. Scheinbar desillusioniert fängt nun der Betrachter an, das Leben, die Abwesenheit, den Anfang wieder neu zu suchen, dabei die Vorstellungen und Systeme und Festlegungen zu relativieren. Martin Schwarz‚ Gegenbild ist nicht destruktiv, es gibt der Vorlage und den darin enthaltenen Dingen eine andere Möglichkeit ihres Erscheinens. Sein "Bild" entspringt einer persönlichen Entscheidung, einer anderen Regie und Haltung, Schwarz widersetzt sich nur scheinbar der vorausgegangenen künstlerischen Entscheidung. Seine Regie geht von den in der Bildvorlage enthaltenen, aus der Realität, aus der künstlerischen Haltung oder Komposition gewonnenen Ausgangspunkten aus. Jeder Vorhang kann auch geschlossen werden, jedes Licht kann erlöschen, jedes Auge kann schliessen, jede Landschaft kann menschenleer sein. Von rückwärts betrachtet kann jeder Vorhang wieder geöffnet werden, jedes Licht aufleuchten, jede Landschaft bevölkert werden, jeder menschliche Blick sich frei machen, jede Schönheit ausstrahlen. Das Negative und das Ende legt den Anfang und das Positive frei. So ist jede Veränderung von der ursprünglichen Bilderscheinung weg zugleich auch eine Entstehungsphase auf das Bild und seine Erscheinungsträger hin. Die Erscheinungswelt der Dinge wird in den Bildern selbst aktiv: Sie, die vorher Teil eines zur Absolutheit gewordenen Augenblicks und dabei an übergeordnete Vorstellungen und Illusionen gebunden, damit auf Systeme hin festgelegt sind, werden durch das Schwarzsche Gegenbild ihrer absoluten Einmaligkeit enthoben und auf ihre sich ständig verändernde Wirkungs- und Erscheinungsformen, auf ihr zyklisches Dasein augenblicklich zurückgeführt. Das System festgelegter Vorstellungen und Bilder wird aufgehoben – dass alles so ist wie es sein soll und immer war und auch so bleibt. Aktiviert wird die an jeden Menschen gebundene Erkenntnisfähigkeit, dass Dingwelt, menschliches Sein und Gestaltung aus allen Frei-Räumen und aus der Fülle des Nichts entstehen können – im ursprünglichen Sinne vielleicht sogar sollten.

Walter Aue: (Berlin, d. 6. Oktober 1975)
Das Leben im Kopf
Martin Schwarz ist ein Konzeptkünstler, der den Kunsthistorikern und Museumsdirektoren das Fürchten lehrt: er zerstört ihre Kultur-Denkmäler. Er demontiert und manipuliert das Bestehende und Endgültige. Ein erregender Prozess, der uns herausfordert, der uns in tiefste Zweifel stürzt: DASS BILDER SOLCHE MACHT HABEN KÖNNEN, dass die Veränderung dieser Bilder die Machtlosigkeit unseres eigenen Wissens entlarvt. ES ZEIGT, WELCHE UNSICHERHEIT HERRSCHT IN DEN DINGEN, MIT DENEN WIR UNS BESCHÄFTIGEN. Unvergessliche Bilder, die sich in unser Gedächtnis eingeprägt haben. Bilder von Ingres, Leonardo da Vinci, C.D. Friedrich, Goya, Feti, Poussin oder Bruegel. Ihre Figuren erschienen uns endgültig, ihre Gegenstände unverrückbar, ihre Darstellung verbindlich beschrieben, ihre Existenz ohne Zweifel. Doch unsere Arglosigkeit hat uns passiv und bedürfnislos gemacht, die Welt der Bilder verwandelte sich in eine Welt der BLINDEN Anerkennung. Es schien, als hätten Künstler nur die Bilder erfunden, um darin die Wörter Ihrer Interpreten unterzubringen: EINE GEHINRKUNSTFERTIGKEIT der Wort-Erfinder, der wir uns unterwarfen, EIN GEWOHNHEITSVERBRECHEN, dem wir uns nicht zur Wehr setzten. Das Eigenleben der Bilder erstarrte, verlor sich, wurde von den zahllosen Wörtern der Erkenntnisfanatiker erdrosselt. Die Bilder wurden zum Erinnerungsfetisch ihrer selbst: von Gehirn zu Gehirn gereicht, gespeichert in den Archiven der Spezialisten und Sammler. Aber EXISTENZ IST IRRTUM (sagt Thomas Bernhard), der Irrtum ist folgerichtig die einzige reale Grundlage. Und an diesem Erkenntnispunkt setzt die Idee von Martin Schwarz DEM TÖDLICHEN STILLSTAND DER BILDER unvermittelt ein Ende: was Wirklichkeit war, ist nicht mehr Wirklichkeit, was für immer feststand, ist für immer ohne festen Halt. Für die meisten ANBLICKSAMMLER ist eine solche Veränderung der vorgegebenen Realität eine tödliche Kunstkatastrophe. Gewöhnt an das Syndrom für Zuverlässigkeit, erblindet im Ordnungsprinzip der wissenschaftlichen Karteikästen, beobachten wir staunend und fassungslos die Zweitgeburt der europäischen Klassiker. Martin Schwarz sagt, Wir erkennen durch die Gegensätze: SEHEN UND NICHTSEHEN, ANWESEND UND NICHTANWESEND, VORHER UND NACHHER. Ein Vorhang verdeckt die Sicht oder gibt die Sicht frei. Das Schweisstuch der heiligen Veronika fällt zu Boden. Von der liegenden Maya bleibt nur der Körperabdruck zurück. Vom Turm zu Babel nur ein Trümmerhaufen. Die Landschaften beginnen sich zu verändern, die Tageszeiten wechseln: wo vorher die strahlende Sonne, erblickt man plötzlich die Mondsichel. Das Stilleben muss nicht länger still und unbeweglich bleiben. Für Martin Schwarz ist alles möglich: ein Zauberer, ein Spieler, der das Unbedeutendste und Harmloseste in das Ungeheuerlichste, das Gewohnte, Vertrauteste, in das Befremdlichste verwandelt. Martin Schwarz nennt seine Bilder VERFREMDUNGEN, seine Vor-Bilder PRIMÄRBILDER. Die Aufeinanderfolge verschiedener Bildzustände und Handlungsabläufe bezeichnet er als VARIATIONEN und BILDGESCHICHTEN. Martin Schwarz sagt, BILDER DIE ICH MAG ERZÄHLEN OHNE WÖRTER: sie sagen nichts, sie zeigen etwas, und Zeigen ist Sprechen ohne Wörter. Die Schweizer Schriftstellerin Leutenegger sagt, Ich habe Angst vor den geronnen, erstarrten Dingen. Sie füllen die Welt auf wie einen Trödlerladen. Sie ist muffig geworden vor soviel Abgestandenem. Vor soviel eingetrödelter, erstickter Weltgeschichte. Mir scheint, so denkt auch Martin Schwarz: was er meint, ist, KEIN HISTORIKER ENTRINNT SEINER GEGENWART, die Zerstörung der Kunst von gestern (mit den Mitteln der Kunst) bedeutet schon immer die Fortsetzung der Kunst von heute. Kein Leben für Dünnhäutige, gewiss, die fertigen Bilder (vor Augen) sind plötzlich unfertig, das irritiert nicht nur, sondern fordert eine neue Stellungnahme, eine neue Ergänzung. Und: wenn möglich: OHNE WÖRTER, und wenn möglich: ALS LEBEN IM KOPF.

Helmut Kruschwitz: (Der Landbote, 13. Dezember 1979)
Die Erfahrung des Nichts
Wahrnehmungsirritation nennt der Winterthurer Künstler Martin Schwarz sein Verfahren, die Gestalt eines vertrauten Bildes als nur eine von vielen Möglichkeiten zu erklären. In der galerie ge sind jetzt auch seine jüngsten Arbeiten zu sehen: Fotografien und Fotocollagen, die sich mit dem Menschen beschäftigen, ihn objektivieren.
In den siebziger Jahren erlebte nach Aussage eines Kunstkritikers jene Kunstrichtung einen Höhepunkt, die Bilder früherer Künstler zitierte, veränderte, verfremdete, die mit andern Worten die Kunstgeschichte selbst zu ihrem aktuellen Thema gemacht hat. Seit Martin Schwarz 1972 auf einer Reproduktion den Kopf der Mona Lisa wegretuschiert und die Hintergrundlandschaft durchgehend sichtbar gemacht hat, ist die Bildverfremdung zum Hauptthema seines künstlerischen Schaffens geworden. Manche Meisterwerke von Dürer bis zu Mondrian haben sich seither unter seiner Hand und in seinem Geist verändert. In seine Bildverfremdungen setze sich der junge Künstler erstmals intensiv mit seiner zeitbedingten, aktuellen Umwelt auseinander. Doch folgt er nicht einfach einem Modetrend. Vielmehr – scheint mir – spiegelt sich im Prinzip des Bildzitates eine grundsätzliche Lebenserfahrung wider, die über den bloss aktuellen Ansatzpunkt hinaus künstlerisch zum Tragen kommt.
Es bereitet uns Schwierigkeiten, dass die Arbeiten von Martin Schwarz nicht mehr als Resultat eines schöpferischen Gestaltungsprozesses bewertet werden können. Der Massstab ist ein anderer geworden. Seine Bildvariationen gehören im Grunde genommen zur Objektkunst, da sie auf etwas vorgefundenem beruhen. Die Kunstgeschichte selbst ist zum Objekt seines künstlerischen Tuns geworden. Entscheiden ist aber nicht das vorgefundene Objekt selbst, sondern der Geist, mit dem Martin Schwarz sie verändert, manipuliert und dadurch mit einem aktuellen Bedeutungsgehalt auflädt. In diesem Sinne ist seine Objektkunst zugleich und vor allem Ideenkunst.
Seine Grunderfahrung ist das Nichts, das Abwesende, das Verhüllte. Er wiederholt Gottfried Kellers "Kolossale Kritzelei" aus dem Jahre 1842, die in der Dezemberausstellung zu sehen ist – angeblich das erste abstrakte Bild. Es versinnbildlicht das Nichts schlechthin. Aber selbst den uns vertrauten Meisterwerken haftet das Nichts an, indem sie uns ihre eigentlichste Aussage verweigern. Seine Bildverfremdungen versuchen unsere festgefahrenen Sehgewohnheiten in Frage zu stellen, mit denen wir solche Meisterwerke mehr oder weniger gleichgültig betrachten. Wahrnehmungsirritation nennt er sein Verfahren, das die Gestalt eines Bildes nicht mehr als definitiv erklärt, sondern als eine von vielen Möglichkeiten. Er reagiert damit auf die massenhaften Kunstreproduktionen, auf den Supermarkt der Künste, der unsere Augen verdorben und den wahren Sinn der Kunst entstellt hat. Seine unspielbare Musik lässt uns unser gedankenloses Konsumieren von Musik bewusst werden, die verfälschte Erdkarte hinterfragt das zum Massentourismus abgesunkene Reiseabenteuer.
In seinen jüngsten Arbeiten wendet er sich dem Menschen selber zu und zwar in Form der Fotografie und der Fotocollage, die den Menschen objektivieren. Auch in diesem neuen Thema begegnen wir dem gleichen zentralen Anliegen: Der Erfahrung des Nichts. Der moderne Massenmensch hat seine Individualität verloren und damit das, was unser Menschsein wertvoll macht. Martin Schwarz aber ist auf der Suche nach der verlorenen Identität. Er fotografiert Grabkreuze mit halb ausgelöschten Schriftzügen von Namen. Ist der Name vergessen, ist auch die Existenz des Menschen, der ihn getragen hat, endgültig verloren. In der Masse verliert der Mensch sein Gesicht und den Kontakt mit seinen Mitmenschen, was der Künstler durch Übermalung und durch das Collageprinzip verdeutlicht. Auf der Collage "Hochzeit mit mir" erscheint das Gesicht von Martin Schwarz doppelt, aufgepfropft auf die fremden Körper eines längst verblichenen Hochzeitpaares. Sie zeigt den Künstler in der Position des Rückzugs auf sich‚s selbst, der Isolation, der Selbstbesinnung: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Indem er die eigene Existenz mit dem absoluten Nichts konfrontiert, versucht er in das Geheimnis der eigenen Individualität einzudringen.
Vielen mögen die Einfälle von Martin Schwarz als Gags erscheinen. Wer sich aber die Mühe nimmt, seine Arbeiten in einem Gesamtzusammenhang zu sehen, der erkennt hinter dem Humor den bitteren Ernst, mit dem er unser Menschsein befragt.